Geisterfjord. Island-Thriller
geben die Verstorbenen auf, wenn es niemanden mehr gibt, der daran interessiert ist, die Sache zu lösen. Einzelne Seelen bleiben stecken und sind besessen von ihrem Problem. So etwas kennen wir als Spuk in alten Häusern oder auf Friedhöfen.«
Freyr fiel es immer schwerer, seinen Kopf hoch zu halten, und er fragte: »Hast du vielleicht einen Kaffee, Sara? Ich hab so schlecht geschlafen, ich kann mich kaum konzentrieren.«
Sara starrte ihn mit undurchdringlichem Gesicht an, stand auf und ging in die Küche. Unterdessen fuhr Elísa fort: »Je länger eine Seele in diesem Zustand verharrt, desto bösartiger wird sie. Eine gute, helle Seele kann sich in ihr Gegenteil umkehren und sehr gefährlich werden. Es wäre schön, wenn wir das bei Ihrem Sohn verhindern könnten. Sie wollen doch nicht von ihm heimgesucht werden.« Den letzten Satz flüsterte sie, damit Sara ihn nicht hörte.
»Und wie können wir das verhindern?« Freyr sehnte sich so nach einem Kaffee, dass er sich beherrschen musste, nicht aufzuspringen, Elísa mitten im Satz sitzen zu lassen und in die Küche zu hechten.
»Suchen Sie ihn. Finden Sie heraus, was mit ihm passiert ist, und beerdigen Sie ihn im Kreise seiner Familie. Erlösen Sie ihn von den Qualen, die es ihm bereitet, seine Mutter, und auch Sie, in der Hölle der Ungewissheit zu wissen.«
Freyr konnte nicht länger mitspielen. »Glauben Sie, wir hätten nicht alles getan, was in unserer Macht steht? Unabhängig von Geistern und Seelen? Glauben Sie mir, bei der Suche wurde jeder Stein umgedreht.«
»Sie müssen es trotzdem weiter versuchen.« Elísa starrte ihn mit ihren tiefblauen Augen an, die unter den schmalen, gezupften Brauen kein einziges Mal blinzelten. »Wenn es nicht schon zu spät ist.«
»Zu spät?« Freyr hörte kaum noch zu. Ihm war jetzt vollkommen klar, dass diese Frau nicht in der Lage war, Sara zu helfen – im Gegenteil. Ihre wirren Theorien standen Saras Genesung im Weg und verhinderten, dass sie die schreckliche Tatsache, dass sie nie erfahren würde, was mit Benni passiert war, jemals akzeptieren würde. Vielleicht war Sara im Augenblick ein bisschen zuversichtlicher, aber das würde nicht lange anhalten.
»Ich spüre Ihren Sohn. Ganz stark. Aber ich spüre auch eine ungeheure Wut, und das ist nicht normal, wenn man bedenkt, wie kurz er erst verschwunden ist. Ich habe keine Erklärung dafür, aber ich weiß, dass wir nicht mehr viel Zeit haben.« Elísas Blick schweifte zur Küchentür. »Sie müssen es herausfinden. Ihre Lage ist jetzt schon schlimm, aber wenn Sie eines Tages zurückschauen, werden Sie diese Zeit vermissen, weil sie die beste seit dem Verschwinden Ihres Sohnes war.«
Sara brachte den Kaffee, und Freyr war heilfroh, sie mit dem Tablett hereinkommen zu sehen. Jetzt würde er nicht nur das heißersehnte Koffein bekommen, sondern auch von den Weltuntergangsvisionen des Mediums erlöst werden, die er sich nicht zu kritisieren oder zu kommentieren traute, geschweige denn zu befürworten. Er reckte sich nach der Tasse, die Sara vor ihm auf den Tisch gestellt hatte, und zuckte zurück, als sich die kühle Hand des Mediums auf seinen Handrücken legte. Verwundert blickte er Elísa an.
»Der Teufel geht um. Vergessen Sie das nicht.«
Freyr lächelte nervös, zog seine Hand zurück und nahm die Tasse. Bevor er einen Schluck trinken konnte, fügte sie hinzu: »Ich fürchte, dass es Ihnen schlecht ergehen wird. Zu meinem Bedauern.«
21. Kapitel
Sie hatten den Abmarsch zu lange hinausgezögert. Mit jedem Schritt über den schmalen Pfad zur alten Fabrik im Hesteyrifjörður wurde es dunkler. Aber der Himmel war wolkenlos, und es sah nicht so aus, dass es wieder anfangen würde zu schneien. Stellenweise war der Pfad unter dem Schnee kaum mehr zu erkennen, aber zum Glück lag er etwas tiefer, so dass man ihm leicht folgen konnte. Katrín hatte die vielen Flüsschen nicht mehr gezählt, die sie überqueren musste, meist mit Putti auf dem Arm, denn er winselte und zierte sich, wenn sie an einen Bach kamen. Mit seinen kurzen Beinen konnte er nicht weit springen und hatte Angst, auf der anderen Seite des reißenden Stroms zurückgelassen zu werden. Ein paar Wasserläufe waren mit Baumstämmen oder Brettern überbrückt. Die meiste Zeit führte der Pfad am Strand entlang, aber nun waren sie ihm ein ganzes Stück hangaufwärts gefolgt. Unter ihnen lagen steile Felsen, über die idyllische Bäche, teils mit silbernen Eisborten eingefasst, ins Tal rauschten.
»Wisst
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