Geisterhauch (German Edition)
und zum Wachhaus ging.
»Vielleicht kam ihre Schwester zur Beerdigung her«, fügte Cookie hinzu. »Ich werde beim Beerdigungsinstitut anrufen und mich erkundigen.«
Während sie versuchte, die Telefonnummer im Internet zu ermitteln, kam der Wachmann zurück; noch immer versuchte sein Lächeln sich an der harten Linie seines Mundes vorbeizumogeln. »Sie dürfen durchfahren. Folgen Sie der Straße«, sagte er und zeigte nach rechts. »Dann kommen Sie direkt zu seinem Gebäude.«
»Vielen Dank.«
Zehn Minuten später war ich im Knast oder jedenfalls in einem Büro im Knast. Cookie wartete im Vorzimmer, um weiter zu recherchieren und einige Anrufe zu tätigen. Sie war dermaßen arbeitswütig. Ich hörte Neil kommen. Er begrüßte Cookie und sprach kurz mit Luann, seiner Sekretärin, die uns am Eingang in Empfang genommen und mich beäugt hatte, als würde ich bei jedem Besuch versuchen, ihr Hündchen zu vergiften. Sie hatte blasse Haut, die jedes ihrer über vierzig Jahre erkennbar machte, dazu kurze schwarze Haare und dunkle Augen. Ich fragte mich jedes Mal, warum sie mich so unfreundlich ansah. Es reichte nicht, sie darauf anzusprechen, aber immerhin. Was ich an Emotionen von ihr empfing, war Misstrauen, aber wenn ich an unsere erste Begegnung zurückdachte, war nicht mal das zu bemerken gewesen, bis sie mitbekam, dass ich wegen Reyes dort war. Anscheinend hatte sie das Bedürfnis, ihn zu beschützen, und ich fragte mich mit einem Mal, wieso.
Neil dankte ihr, dann kam er auf die Bürotür zu. Er und ich waren zusammen zur Highschool gegangen, aber seitdem hatten sich unsere Wege selten gekreuzt. Hauptsächlich weil er ein Wichser gewesen war. Zum Glück hatte ihn das Gefängnisleben reifer gemacht. Aufgrund eines Vorfalls vor zehn Jahren, der sich kurz nachdem Reyes eingebuchtet wurde ereignete und bei dem drei der gefährlichsten Insassen innerhalb von fünfzehn Sekunden reglos am Boden lagen, wusste Neil ein bisschen über Reyes Bescheid. Was damals passiert war, hatte bei Neil einen Eindruck hinterlassen. Aber er wusste gerade so viel, dass er mir alles glaubte, was ich sagte, egal wie abgedreht es sich anhörte. Das war auf der Highschool noch nicht so gewesen. Damals galt ich noch als Psycho oder wurde Bloody Mary genannt, was sonderbar war, weil ich selten blutüberströmt war. Doch inzwischen konnte ich sein neu entdecktes Vertrauen in meine Fähigkeiten nutzen, und genau darauf verließ ich mich jetzt.
Er betrat sein Büro und warf mir einen wissenden Blick zu, ehe er sich hinter seinen Schreibtisch setzte. Neil war mal Sportler gewesen und hatte noch immer eine ansprechende Figur, trotz seines schütteren Haupthaars und der offensichtlichen Neigung zu Trankopfern.
»Hast du ihn gesehen?«, fragte er und kam damit sofort zur Sache. Erst mal ganz geschäftlich. Das funktionierte. Und es war verständlich, dass er als stellvertretender Direktor des Gefängnisses, dem Reyes abhandengekommen war, wissen wollte, wo Reyes war.
»Das wollte ich dich auch fragen.«
»Das heißt, du weißt nicht, wo er ist?« Er klang aufgeregt.
»Nein.« Ich gab mich genauso aufgeregt.
Mit einem müden Seufzer streifte er den Gefängnisdirektor ab, und seine nächste Äußerung verblüffte mich mehr, als ich zugeben wollte. »Wir müssen ihn finden, Charley, und wir müssen den Marshals zuvorkommen.«
Ich war sofort alarmiert. »Wieso?«
»Weil es sich um Reyes Farrow handelt«, antwortete er höhnisch. »Ich habe erlebt, wozu er imstande ist. Ganz ohne Waffen. Wer weiß, wozu er fähig ist, wenn er eine Waffe in die Hand bekommt.« Er fuhr sich nervös mit den Fingern durchs Gesicht. »Aber darüber weißt du besser Bescheid als ich.«
Da hatte er recht. Und wenn er nur noch ein bisschen mehr Durchblick hätte, würde er durchdrehen.
»Niemand würde ihn aufhalten können«, fuhr er mit unheilvoller Miene fort. »Und dann wird jedes Mittel recht sein, um ihn zu schnappen.«
Bei der Vorstellung, Reyes könnte von einer Gruppe U. S. Marshals gestellt werden, blieb mir fast das Herz stehen. Reyes hatte es selbst gesagt: In menschlicher Gestalt war er verwundbar. Ich war mir nicht sicher, wie weit Neil gehen würde, um ihm zu helfen, aber ich wollte es herausfinden. Und wenn er mir vertrauen sollte, würde ich ihm ebenfalls vertrauen müssen. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit wäre allerdings zu viel für ihn und würde mehr schaden als nützen. Neil dachte sich bereits, dass Reyes etwas anderes war als wir
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