Geisterhauch (German Edition)
Normalos. Das würde ich nutzen, um ihn einzuwickeln, und die unangenehmeren Tatsachen, bei denen sich Begriffe wie Schnitter und Satans Sohn nicht vermeiden ließen, für ein andermal aufheben.
»Ich weiß nicht, wo er ist«, sagte ich und wagte einen gewaltigen Vertrauensvorschuss. »Aber er ist verletzt und wird gesucht.«
Das erschreckte ihn. Seine Miene blieb zwar unbewegt – der klassische Pokerspieler –, aber ich spürte, wie seine Emotionen ins Schlingern gerieten, und wusste, dass ich fortan einen Verbündeten hatte. Er nahm es mir nicht übel, dass ich etwas über Reyes wusste, und war auch nicht erpicht auf die Jagd nach seinem Gefangenen. Aus seinen Augen leuchtete keine Gier, obwohl ihm sicher eine Beförderung winkte.
Stattdessen hatte er Angst um Reyes. Er machte sich tatsächlich Sorgen um ihn. Das verblüffte mich. Neil hatte jeden Tag mit verurteilten Verbrechern zu tun. Das Helfersyndrom spielte in seinem Beruf sicher eine große Rolle. Man sollte meinen, dass dem Frustration entgegenwirkte. Aber ich spürte bei ihm Verbundenheit mit Reyes. Vielleicht rührte sie daher, dass Reyes so lange sein Gefangener gewesen war und dass er von Anfang an über dessen Besonderheit Bescheid gewusst hatte. Aber wie auch immer, ich hätte ihm in dem Moment einen dicken Schmatz gegeben, hätte er sich mir gegenüber auf der Highschool nicht wie ein Blödmann verhalten. Dass ich ihn ausgerechnet jetzt auf meiner Seite hatte, erleichterte mich ungemein, wenn auch nur für einen Moment.
»Woher weißt du, dass er verletzt ist?«, fragte er, aufgewühlt von Sorge, Mitgefühl und Angst. Seine Gefühle schlugen mir entgegen wie erstickender Rauch.
»Ich werde dir etwas verraten«, sagte ich und hoffte sehr, dass ich mit meinem Sprung ins Ungewisse nicht in einem Kaktusfeld landete. So was tut höllisch weh. »Und du weißt, wofür du offen sein musst?«
Er zögerte und überlegte, worauf ich wohl hinauswollte, dann nickte er vorsichtig.
Ich neigte mich nach vorn und senkte die Stimme, um den Schlag zu mildern. »Reyes ist ein übernatürliches Wesen.« Als er nicht reagierte, nicht mal mit der Wimper zuckte, redete ich weiter. Hauptsächlich weil ich seine Hilfe dringend brauchte. Und ein bisschen weil ich neugierig war, wie weit ich gehen konnte. Und wie weit er gehen würde, um die Wahrheit zu erfahren. »Ich habe selbst ein paar übernatürliche Kräfte, aber mit ihm kann ich mich nicht vergleichen.«
Nach einem gedankenverlorenen Augenblick schlug er sich die Hände vors Gesicht und linste durch die gespreizten Finger. »Das geht allmählich über meinen Verstand«, sagte er, ließ es sich aber noch mal durch den Kopf gehen. »Nein, falsch, das geht schon lange über meinen Verstand. Das ist mir völlig unbegreiflich.«
»Okey dokey.« Am besten erzählte ich einfach weiter und verzichtete darauf, zu urteilen, voreilige Schlüsse zu ziehen oder ihm zu Weihnachten eine Zwangsjacke zu schenken.
Er drückte eine Taste seiner Gegensprechanlage.
»Ja, Sir?«, meldete sich Luann sofort. Sie war gut.
»Luann, Sie müssen mich sofort einweisen.«
»Natürlich, Sir. Wünschen Sie ein bestimmtes Programm?«
»Nein«, sagte er kopfschüttelnd. »Mir ist alles recht. Tun Sie, was Sie für richtig halten.«
»Wird sofort erledigt, Sir.«
»Sie ist ein feiner Kerl«, sage er, nachdem Luann die Verbindung unterbrochen hatte.
»Scheint so. Und warum lässt du dich einliefern?«
Er blickte mich finster an, als könnte ich etwas für seinen Nervenzusammenbruch. »So ungern ich es zugebe, ich glaube dir.«
Ich versuchte, ein erleichtertes Grinsen zu unterdrücken.
»Und zwar ganz selbstverständlich, als hättest du mir mitgeteilt, dass du einen Platten hast oder dass es bewölkt ist. Als wäre das etwas ganz Alltägliches. Nichts Besonderes. Nichts, was einen aufwühlen müsste.«
Mann, er hatte sich echt verändert. Und ich meinte nicht nur den Bierbauch und die beginnende Glatze. »Und das ist schlimm?«
»Selbstverständlich ist das schlimm. Ich arbeite im Gefängnis, um Himmels willen. So etwas gibt es in meiner Welt nicht. Und trotzdem glaube ich mit jeder Faser, dass Reyes ein übernatürliches Wesen ist. Eher würde ich die Wettervorhersage anzweifeln.«
»Die zweifelt jeder an. Willkommen in meiner Welt«, sagte ich grinsend. »Eine absolut tolle Welt. Aber ich habe dir das aus einem bestimmten Grund erzählt.«
Er blickte mich fragend an.
»Ich brauche deine Hilfe. Ich will wissen, wer Reyes
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