Geisterhauch (German Edition)
Bogart. »Und wenn Leute hinübergehen, kann ich sie hervorholen. Ich hoffe, Sie haben Mimi hier gesehen und etwas bemerkt, das allen anderen entgangen ist. Ich könnte Ihre Erinnerungen nach ihr absuchen, falls Sie sich entschließen, die Erde hinter sich zu lassen. Aber ich werde Sie nicht zwingen.« Dass ich das gar nicht konnte, würde ich ihm nicht auf die Nase binden.
Er schüttelte den Kopf. »Drüben wartet niemand auf mich.«
»Unsinn. Jeder hat einen, der auf ihn wartet. Das kann ich Ihnen versprechen. Sie wissen es vielleicht nicht, aber Sie haben jemanden.«
»Familie habe ich.« Nach einem schweren Seufzer sagte er: »Werde wohl hinübergehen, wenn es so oder so egal ist.«
Es brach mir ein bisschen das Herz. Er wusste, dass Menschen auf ihn warteten, hielt sich aber nicht für wert, zu ihnen zu gehen. Er musste in seinem Leben etwas getan haben, das zu einem Bruch mit ihnen geführt hatte.
Ich hoffte, ihn noch überzeugen zu können. Ihm war nicht klar, was ihm entging, wenn er auf der Erde blieb. Aber er hatte seine Gründe. Drängen wollte ich ihn nicht.
»Wenn Sie bereit sind.« Ich legte eine Hand auf seinen Arm. Er schaute darauf, nahm sie und zog sie an seine kalten Lippen. Nach einem zarten Kuss auf die Knöchel verschwand er.
Niedergeschlagen sah ich Cookie an. »Er hat’s mir nicht abgekauft.«
»Du kannst ihre Erinnerungen sehen?«, fragte sie ehrfürchtig staunend. Mir war allerdings schleierhaft, was es da zu staunen gab.
»Ja, aber ich habe noch nie versucht, etwas Bestimmtes zu entdecken. Es könnte gehen. Ich muss es ausprobieren. Es gibt noch jemanden, mit dem ich reden kann.«
Ich bedeutete ihr, die Kaffeetasse mitzunehmen, und ging mit ihr zu den Tischen. Ein Dutzend Tische standen in dem großen Raum, an den Wänden gab es Sitznischen. Es war schummrig, und an einem der großen Fenster, die auf die Kreuzung gingen, saß tuschelnd ein junges Pärchen. Einen Tisch weiter saß die Frau, die aussah, als wäre sie zu Lebzeiten eine drogensüchtige Prostituierte gewesen. Ihrer Haut nach zu urteilen hatte sie Meth genommen.
Ich gab Cookie mit einem Blick zu verstehen, welchen Stuhl sie nehmen sollte. »Du wirst frieren«, kündigte ich bedauernd an; wir ernteten bereits schräge Blicke von Norma. Aber Cookie musste den Platz der Prostituierten einnehmen, wenn ich mit dieser sprach.
Sie ging wie auf Eiern zu dem Stuhl. Als sie saß, sackte sie in sich zusammen. Die Frau schimmerte durch sie hindurch und nahm gar nicht wahr, dass ihr jemand auf die Pelle gerückt war. »Das ist so dermaßen beunruhigend«, sagte Cookie.
»Ich weiß. Es tut mir leid.«
»Nein, nein, für Mimi würde ich das den ganzen Tag tun. Schwing einfach deinen Zauberstab und finde heraus, wo sie ist.«
»Alles klar.« Ich setzte mich ihr lächelnd gegenüber.
Die Frau hatte die Arme auf den Tisch gelegt und starrte aus dem Fenster. Sie rieb die Handgelenke aneinander, und dabei fiel mir auf, dass sie einen Selbstmordversuch hinter sich hatte. Aber die Schnitte waren längst verheilt. Daran war sie also nicht gestorben. Auf jeden Fall hatte sie ein knüppelhartes Leben hinter sich.
»Liebes«, sagte ich und berührte sie am Arm.
Sie unterbrach ihr gestörtes Verhalten und richtete einen leeren Blick auf mich.
»Ich heiße Charlotte. Ich bin hier, um dir zu helfen.«
»Du bist schön.« Sie streckte die Hand nach meinem Gesicht aus und strich mit den Fingerspitzen über meine Wangen und Lippen. Ich ließ es lächelnd zu. »Wie eine Million Sterne.«
»Wenn du durch mich hinübergehen möchtest, kannst du es tun.«
Sie zog die Hand heftig zurück und schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht. Sonst komme ich in die Hölle.«
Ich nahm ihre Hände. »Nein, kommst du nicht. Wenn das stimmte, Liebes, wärst du schon dort. Das ist auch gar nicht mein Zuständigkeitsbereich. Die Hölle trifft ganz unerbittlich ihre eigenen Entscheidungen.«
Ihre Lippen zitterten. An den Wimpern sammelten sich Tränen. »Ich werde … nicht … in die Hölle kommen? Aber … ich dachte, weil ich nicht in den Himmel gekommen bin …«
»Wie heißt du?«
»Lori.«
»Ich muss zugeben, Lori, auch ich verstehe manchmal nicht, wieso jemand nicht hinübergeht. Oft liegt es daran, dass der Verstorbene einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist. Kannst du mir sagen, wie du gestorben bist?«
Cookie schlang bibbernd die Arme um ihren Leib.
»Ich weiß es nicht mehr«, sagte Lori, beugte sich nach vorn und verschränkte ihre
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