Geisterjagd
Marke er noch nie etwas gehört hatte. Aus dem Spiegel selbst starrte ihm ein typischer Pirat entgegen, genauso karikaturhaft wie die an den Spiegel gefesselte Blondine.
Sein Gesicht war nicht zu erkennen. Lang und schmal, mit gewachstem Schnurrbart und Hakennase, das Ganze eingerahmt von einem zerstrubbelten Wust aus schwarzen Ringellocken – viel dunkler als sein natürliches braunes Haar –, die unter einem extravaganten Hut bis auf seine Schultern fielen.
Wenigstens trug er keine Augenklappe.
Als er sein Avatar anschaute und es mit denen der anderen Anwesenden verglich, fand er, er fiele auf wie ein bunter Hund. Während alle anderen einen exotischen und extrem individuellen Eindruck machten, völlig eins mit ihren angenommenen Charakteren, wirkte er in seiner Verkleidung so linkisch, dass man ihm seine Unerfahrenheit sofort ansah. Alles an ihm machte deutlich, dass sein Avatar lediglich ein stereotypes, langweiliges Fertigprodukt von der Stange war, zudem noch überhastet ausgewählt. Was ja auch stimmte.
Er senkte den Blick und wandte sich den Sachen zu, die er anhatte: ein gelbweißes, fast schon elfenbeinfarbenes Hemd mit gebauschten Ärmeln, darüber eine Weste von unbestimmbarer Farbe, die er schließlich als Aubergine einstufte. Das Kleidungsstück wies aufwendige Stickereien und übergroße Knöpfe auf, doch er trug die Weste offen. Vervollständigt wurde das Ensemble durch eine keck an einer Seite zugebundenen Schärpe … und durch diesen Hut. Philip liebäugelte mit dem Gedanken, diese abstruse Kopfbedeckung abzunehmen, entschied dann jedoch, es sei eine alberne Geste; schließlich gehörte das Stück zum Kostüm. Allerdings fragte er sich auch, wie die Simulation reagieren würde, sollte er es versuchen.
»Sie sind neu hier.« Der Barkeeper kam zu ihm und störte seine Selbstbetrachtung. Die Worte trugen nicht unbedingt dazu bei, Philips Zuversicht zu stärken. Der Mann war kahlköpfig und von kräftiger Statur und schien keinen Hals zu haben; der runde Kopf saß direkt auf den unwahrscheinlich breiten Schultern wie ein überreifer Pickel. Philip überlegte, ob er Bestandteil der Simulation sei, ein Mitglied der Site, oder vielleicht sogar ein Miteigentümer dieser Lokalität. Interessanter Gedanke.
»Was zu trinken?«
Philip erinnerte sich, dass Mal gesagt hatte, mit den Wishits könne man sich Drinks kaufen. Wie weit ging diese Simulation? »Ein Bier, bitte.«
Der Barkeeper stieß einen Grunzer aus, hob ein Glas an einen Zapfhahn in der Wand und füllte es mit einer suspekten dunklen Flüssigkeit, ehe er es vor Philip auf den Tresen stellte. Definitiv ein Avatar, befand Philip. Der Oberarm des Mannes strotzte vor Muskeln und schien einen größeren Umfang zu haben als die Taille mancher Frau.
Philip griff nach dem Bier, wobei er sich nicht gewundert hätte, wenn seine Hand glatt hindurchgeglitten wäre, doch der Fall trat nicht ein; stattdessen trafen seine Finger auf etwas, das sich anfühlte wie festes, gekühltes Glas.
Unter dieser Illusion war dieser Raum sein Wohnzimmer, und ganz gleich, wie komplex die Programme waren, die The Death Wish produzierten, sie liefen trotzdem durch seine Systeme. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass sie so etwas hervorbringen konnten. Er galt als Experte auf diesem Gebiet, und mit seiner eigenen Ignoranz konfrontiert zu werden war ärgerlich, um nicht zu sagen peinlich.
»Das macht einen Wishit«, klärte der Barmann ihn auf. »Haben Sie auch einen Namen?«
Er reichte ihm eine glänzende, harte Münze. »Seeker2.«
Der Mann mit den silbernen Schuppen fasste ihn scharf ins Auge. »Seeker2, hmm?«
Philip gab sich die größte Mühe, lässig zu wirken, denn er war klug genug, um zu wissen, dass er im Moment außerstande war, einschüchternd aufzutreten. »Was ist damit?«
»Ach, nichts. Gestatten Sie mir, dass ich mich vorstelle: Ich bin Seeker.«
So klang es, wenn man lässig erscheinen wollte. Philip blinzelte, rang nach Worten und stieß hervor: »Na so was!« Wie hoch standen die Chancen, dass dies ein Zufall war?
Der Schuppenmann lachte und schüttelte den Kopf. »Ich wusste, du würdest bald hier auftauchten. Seeker2 … das hätte ich mir denken können.«
Philips Unbehagen wuchs, und er war völlig perplex. »Wie bitte?«
»Ich bin’s, Mal, Philip.«
Seeker. Natürlich war es Mal. Wer sonst sollte sich Seeker nennen?
»Ich habe auf dich gewartet«, fuhr der Fischmann fort.
»Wie schön.«
»Ich bin froh, dass du an die Wishits gedacht
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