Geisterreigen
heute fremden Englisch abgefaßt."
"Und was schreibt Lady Elisabeth?
"Sie muß sehr verzweifelt gewesen sein. Als sie und Charles Rowland heirateten, war sie knapp fünfzehn. Elisabeth ist von ihrem Onkel in diese Ehe gezwungen worden. Ihre Eltern waren schon früh gestorben. Ihr Onkel versprach sich einiges von der Verbindung der beiden Häuser, obwohl Charles schon damals als grausam und unberechenbar galt. Die junge Frau wurde wie eine Gefangene auf Rowland Castle gehalten. Charles behandelte seine Familie nicht viel besser als seine Pächter. Aus dem Tagebuch geht ganz einwandfrei hervor, daß auch Elisabeth an die Schuld ihres Mannes glaubte."
"Es ist ein Segen, daß man heutzutage nicht mehr anderen Menschen derart ausgeliefert ist wie d amals", meinte der Tierarzt.
Diana nickte. "In der Chronik habe ich inzwischen auch we itergelesen. Charles' Sohn hat alles mögliche versucht, um die Schuld seines Vaters zu sühnen, aber auch seine Töchter starben und später die Töchter seines Sohnes."
Die junge Frau blickte zu Rowland Castle hinauf. "In diesen Mauern herrschte soviel Verzweiflung, soviel Hoffnungslosi gkeit." Sie dachte an das Lachen, das sie in der Bibliothek gehört hatte, und erzählte Timothy davon. Auch von dem kurzen Lichtstrahl, der zu dem Schrank mit der Chronik und Elisabeths Tagebuch gewiesen hatte.
"Sie beschäftigen sich unablässig mit den toten Mädchen, Miß Rowland. Es ist kein Wunder, daß Sie oft ihr Lachen oder ihre Stimmen zu hören glauben", sagte Timothy. "Und auch für den Lichtstrahl wird es eine Erklärung geben. Es..."
"Doktor Lansing, Sie sollten sich hören", fiel ihm Diana amüsiert ins Wort. "Sie überschlagen sich fast, um für alles eine natürliche Ursache zu finden."
"Mit anderen Worten, Sie sind inzwischen davon überzeugt, daß es sich um übernatürliche Erscheinu ngen handelt?"
"Mein Verstand weigert sich nach wie vor, es zu glauben, aber was ich höre und was ich sehe belehrt mich eines Besseren", erw iderte Diana. Sie nickte. "Ja, ich glaube inzwischen, daß die Seelen der kleinen Mädchen noch keine Ruhe gefunden haben und daß sie durch Rowland Castle und Alberry irren. Im übrigen, sind sie auch in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder gesehen und gehört worden. Meist, bevor sich das Schicksal einer Rowland-Tochter erfüllte."
"Ich wünschte, ich könnte Ihnen beweisen, daß Sie sich irren." Timothy drückte ihre Hand.
Seine Nähe tat ihr wohl und sie war froh, mit ihm einige Zeit verbringen zu dürfen. "Was würden Sie von einem Spaziergang am Strand halten?" fragte sie, weil sie mit dem Essen fertig waren.
"Eine fabelhafte Idee", lobte er und bat Lucy Cook um die Rechnung.
Übermütig wie Kinder rannten die jungen Leute wenig später die Stufen zum Strand hinunter. Lachend hielten sie sich aneinander fest, als sie sich die Schuhe auszogen, um durch den Sand zu laufen.
"Wer eher am Wasser ist!" schrie Timothy, ließ seine Begleit erin los und rannte davon.
Diana folgte ihm. Der Sand fühlte sich wunderbar warm unter ihren Füßen an. In der Nähe des Wasser bauten zwei Jungen eine Sandburg. Sie waren so in ihr Spiel vertieft, daß sie nichts von dem, was um sie herum geschah, wahrnahmen.
"Sieger!" rief Timothy. Er genoß es, wie die Wellen seine Füße umspülten. "Nun kommen Sie schon. Das Wasser ist wunderbar warm."
Diana hob ein Stückchen ihren Rock an und lief etwas weiter ins Wasser hinein. "Jetzt hätte ich große Lust, schwimmen zu g ehen", bekannte sie, als er neben ihr stand. Sie wies zu seinen Beinen. "Ihre Hosen."
"Ach, das macht nichts." Er legte den Arm um ihre Schultern. "Warum verbringen wir nicht an einem der nächsten Tage ein paar Stunden am Strand? Sonntag bin ich zu Ihnen zum Lunch eingel aden. Am Nachmittag könnten wir baden gehen." Er blickte zum Himmel hinauf. "Natürlich müßte das Wetter mitspielen."
"Es wird", sagte Diana. "Ich freue mich darauf."
"Ich mich auch", bekannte er.
Sie kehrten zum Ufer zurück. Langsam gingen sie am Wasser entlang. Lange Zeit sprachen sie kein Wort. Aber das Schweigen belastete sie nicht. Es genügte ihnen, nahe beieinander zu sein und die G egenwart des anderen zu spüren.
"Morgen nachmittag muß ich zu einem alten Ehepaar fahren, das auf einem Hof etwa fünfzehn Kilometer von hier lebt. Hätten Sie nicht Lust mitzukommen?" fragte Timothy plötzlich und blieb stehen. "Ich hätte Sie sehr gerne dabei."
Dianas Augen begannen zu strahlen, ohne daß sie sich dessen bewußt wurde.
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