Geisterreigen
Tagebücher gefunden, die im frühen neunzehnten Jahrhundert von Mitgliedern ihrer Familie geschrieben worden waren. In jeden von ihnen stand etwas über den Fluch, der den Töchtern der Rowlands seit siebzehnhundertsechsundneunzig den Tod brachte.
Vorsichtig hob sie ein dickes Buch aus einem Regal am Sü dfenster und trug es zu dem Schreibtisch, der am anderen Ende der Bibliothek stand. Sie wollte das Buch gerade aufschlagen, als sich die Tür öffnete und der Butler mit einem Teetablett erschien.
"Ich dachte mir, daß Sie gegen eine Tasse Tee nichts einz uwenden hätten, Miß Diana", meinte er und stellte das Tablett auf einer Ecke des Schreibtischs ab.
"Das war eine fabelhafte Idee, Mister March", lobte sie. "Zw ischen so vielen Büchern wird die Luft immer ziemlich trocken und staubig sein."
Der Butler nickte. "Dennoch hat sich Seine Lordschaft in di esem Raum am liebsten aufgehalten." Versonnen blickte er sich um. "Wenn ich die Bibliothekstür öffne, kommt es mir oft vor, als würde ich Lord Rowland in seinem Ohrensessel am Fenster sitzen und lesen sehen." Das Gesicht des Mannes wurde dunkel vor Kummer. "Ich hätte niemals gedacht, daß Seine Lordschaft so bald von uns gehen würde."
Ihr Großonkel war über achtzig geworden, aber Diana verstand den Schmerz des Butlers. Immerhin hatten er und seine Frau den größten Teil ihres Lebens auf Rowland Castle verbracht. "Mein Onkel wird sehr froh gewesen sein, Menschen wie Sie und Ihre Frau um sich zu haben", meinte sie tröstend.
"Mag sein, daß wir Seiner Lordschaft in den letzten Jahren seines Lebens eine große Hilfe waren", bemerkte der Butler. "Falls Sie etwas brauchen, klingeln Sie bitte." Ohne ihre Antwort abzuwarten, verließ er die Bibliothek.
Diana schenkte sich Tee ein, gab Zitrone und Zucker in die Tasse und rührte gedankenverloren um.
In der Schweiz hatte sie ihre Arbeit und ihre Freunde gehabt. Meistens hatten sie am Wochenende etwas gemeinsam unternommen. An England hatte sie kaum einen Gedanken verschwendet. Sie hatte sich nie vorstellen können, dort zu leben.
Und nun war alles anders geworden. Sie saß hier in der B ibliothek von Rowland Castle, mußte sich um die Leute kümmern, die für sie arbeiten, dafür sorgen, daß der Besitz, den ihr der letzte Lord Rowland hinterlassen hatte, erhalten wurde und vor allen Dingen den Makel abwaschen, der auf ihrer Familie lag.
Auch wenn sich Diana noch immer nicht sicher war, daß die Töchter der Rowlands tatsächlich durch den Fluch umgebracht worden waren, es erschien ihr ungeheuer wichtig, die Stelle zu finden, an der die Gebeine der verschwundenen Mädchen lagen. Sie mußten ein christliches Begräbnis erhalten, um die Schuld auszulöschen, die Charles Lord Rowland auf sich geladen hatte.
Die junge Frau stand auf und trat ans Fenster. Sie öffnete es weit und blickte in den Park hinaus. Warum ist es dir so wichtig, daß diese Schuld getilgt wird, überlegte sie. Nur, damit du hier in Ruhe leben kannst? Sie schüttelte den Kopf. Nein, das war es nicht alleine. Sie spürte tief in ihrem Herzen, daß die Seelen der toten Kinder erst Frieden finden konnten, wenn ihre Gebeine in geweihter Erde ruhten.
Diana schloß die Augen. Auch am Vorabend hatte sie die Ki nder tanzen sehen. Es war kurz vor Mitternacht gewesen. Sie hatte nicht einschlafen können und war schließlich aufgestanden und hatte sich auf die Fensterbank gesetzt. Unten im Park hatten die Kinder getanzt. Ihre Stimmen waren zu ihr herauf geklungen. Unermüdlich hatten sie sich im Kreis gedreht. Lucy war die wildeste von allen gewesen.
Auch wenn sich Diana noch immer innerlich dagegen sträubte, an Geistererscheinungen zu glauben, für diese tanzenden Kinder gab es keine natürliche Erklärung.
Sie wandte sich wieder dem Schreibtisch zu, blieb dann jedoch abrupt stehen. Eine Erklärung gab es. Immerhin wußte sie, daß ihre Rückkehr nach England nicht jedem Bürger von Alberry gefiel. Konnte es nicht sein, daß man mit einem inszenierten Spuk versuchte, sie von Rowland Castle zu vertreiben?
Möglich war es. Wenn...
Diana zuckte zusammen. Ganz deutlich hörte sie das Lachen eines Kindes. Es kam aus dem hinteren Teil der Bibliothek. Mit wenigen Schritten durchquerte sie den Raum und trat in die Nische. Sie bemerkte einen kurzen Lichtschein, der über einen der Schränke huschte.
Die junge Frau drehte sich um, weil dieser Lichtschein auch von einer Taschenlampe hätte stammen können, doch außer ihr befand sich niemand in der
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