Gejagte Der Dämmerung -9-
schallte fröhliche Weihnachtsmusik in die Nacht, und Corinne spürte einen so großen, unendlichen Kummer, dass ihr fast das Herz brach. Hastig atmete sie die kalte Nachtluft ein, und dann rannte sie keuchend die verschneite Auffahrt hinunter.
9
Corinne war bereits bis zum geschlossenen Einfahrtstor an der Straße gekommen, als Hunter Victor Bishop liegen ließ und aus dem Dunklen Hafen auf den gefrorenen Rasen trat. Sie wirkte sehr klein und zerbrechlich, trotz der inneren Stärke, die sie im Haus bewiesen hatte. Jetzt, wo sie dort draußen war, allein in der Dunkelheit, erkannte er, wie verletzt sie wirklich war. Sie zitterte am ganzen Körper, klammerte sich mit herabhängenden Schultern und tief gesenktem Kopf an die schwarzen eisernen Gitterstangen und kämpfte gegen einen Schmerz an, den er sich auch nicht annähernd vorstellen konnte.
Sie weinte, als er sich ihr näherte, ihr Atem bildete helle Wolken in der Dunkelheit. Sie schluchzte leise, und ihr Kummer schien aus ihrem tiefsten Inneren zu kommen. Hunter wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte keine Worte des Trostes für sie, hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie jetzt vielleicht gern hören würde.
Er streckte die Hand aus, um sie ihr auf die bebende Schulter zu legen, wie er es andere hatte tun sehen, wenn sie jemanden trösten wollten. Unerklärlicherweise spürte er das Bedürfnis, ihren Schmerz zu würdigen. Sie wirkte so einsam in diesem Augenblick, und er wollte ihr zeigen, dass er verstand, dass sie eben in diesem Haus etwas Wichtiges verloren hatte – ihr Vertrauen.
Bevor er sie berühren konnte, registrierte sie seine Anwesenheit.
Schniefend hob sie den Kopf und sah über die Schulter zu ihm auf. »Hast du … ihm was getan?«
Hunter schüttelte langsam den Kopf. »Er ist am Leben, wenn ich auch nicht verstehe, warum sein Tod so inakzeptabel für dich ist.«
Sie runzelte die schmalen Augenbrauen. »Er hat mich einmal geliebt. Noch bis vor ein paar Minuten ist er mein Vater gewesen. Wie konnte er mir das nur antun?«
Hunter starrte in ihre wild blickenden Augen und erkannte, dass sie von ihm keine Erklärung erwartete. Sie wusste so gut wie er, dass Victor Bishops Feigheit größer gewesen war als seine Liebe zu dem Kind, das er bei sich aufgenommen und als seine Tochter aufgezogen hatte.
Corinne sah über seine Schulter in die Dunkelheit. »Wie konnte er nur die ganze Zeit mit sich leben und wissen, was er mit seinen Lügen angerichtet hat – was er nicht nur mir angetan hat, sondern der ganzen Familie? Wie konnte er ruhig schlafen, nachdem er das Mädchen hatte ermorden lassen, um ihren Tod als Teil seines Täuschungsmanövers einzusetzen?«
»Er verdient die Gnade nicht, die du ihm heute Nacht erwiesen hast«, antwortete Hunter. Er sagte es ohne Groll, stellte lediglich eine grausame Tatsache fest. »Ich glaube nicht, dass er dir gegenüber genauso rücksichtsvoll gewesen wäre.«
»Ich will seinen Tod nicht«, flüsterte sie. »Das könnte ich meiner Mutter – Regina – nicht antun. Er wird sich ihr gegenüber rechtfertigen müssen, nicht mir. Und auch nicht dir oder dem Orden gegenüber.«
Hunter stieß ein kehliges Knurren aus, alles andere als überzeugt. Der einzige Grund, warum Victor Bishop noch am Leben war, war die Bitte seiner verratenen Tochter. Hunter war bestürzt gewesen, als sie ihn gebeten hatte, den Mann zu verschonen. Aber er hätte sich nicht wundern müssen. Schließlich hatte Miras Vision es vorausgesagt.
Allerdings nicht so akkurat, wie er gedacht hatte. Die Situation war ihm irgendwie anders vorgekommen, und auch Corinne war anders gewesen. Sie hatte ihn nicht mit der leidenschaftlichen Verzweiflung angefleht, die er in Miras Vision gesehen hatte, sondern mit einer resignierten Erschöpfung.
Und nicht nur das, überlegte Hunter. Die Vision war auch anders ausgegangen, als die kleine Seherin ihm gezeigt hatte. Denn er hatte nicht zugeschlagen. Der Ablauf von Miras Vision war verändert worden, und das war noch nie vorgekommen.
Es fühlte sich falsch an, grundfalsch.
Ein Teil von ihm wollte selbst jetzt noch in den Dunklen Hafen zurück. Er war dafür ausgebildet, jeden Auftrag zu Ende zu bringen, damit ihm die Folgen nicht später zum Verhängnis wurden. Hunter hatte einen gebrochenen Mann vor sich gesehen, jemanden, der sich als beeinflussbar und schwach erwiesen hatte. Solche Leute konnten von Stärkeren manipuliert werden, wie Dragos es vor all den Jahren auch getan hatte. Auch wenn
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