Gekapert
gehorcht. »Was ist mit den anderen?«
Erst außerhalb des Fahrzeugs versteht er, weshalb Qasiir so lange gebraucht hat, ihn herauszuholen: die Toten und Verwundeten sind im Weg. Qasiir bietet an, die Verwundeten zum Krankenhaus zu bringen, und einige Zuschauer improvisieren aus Tüchern Särge, damit die Leichen hineingelegt und in die nächste Moschee getragen werden können. Krankenwagen zu rufen ist sinnlos, denn in dieser Stadt gibt es mehr explodierende Bomben als Krankenwagen. Die Toten ins Krankenhaus zu bringen, um Autopsien durchzuführen ist gleichfalls sinnlos; sie werden noch vor Anbruch der Dunkelheit beerdigt.
Während Qasiir ihn auf den Rücksitz einer Limousine zwischen zwei seiner verwundeten Kollegen zwängt, ihm den Kopf eines dritten auf den Schoß legt, wird Malik klar, welche Verantwortung er trägt. Es ist an ihm, der Welt zu berichten, was geschehen ist, jetzt da diese Journalisten für ihren Beruf gestorben sind. Ist er fähig, dieser Herausforderung gerecht zu werden? Hat er das Stehvermögen, sie öffentlich zu betrauern, Namen zu nennen, mit dem Finger auf die Schuldigen zu zeigen? In Gedanken entwirft er einen Nachruf auf »den unbeachteten Journalisten«, er fängt an, einen der verwundeten Journalisten, der wach genug ist, eingehend zu befragen.
Nagend erinnert ihn ein Gewissensbiß daran, daß er seinen Artikel über Dajaals Ermordung noch nicht veröffentlicht hat. Dann bricht die Sorge über ihn herein, daß er ebenfalls sterben könnte, ehe er über den Mob der Jugendlichen schreiben kann, die sich dem Wahnsinn überlassen, während die Gesellschaft einfach nur zusieht und nichts unternimmt.
Malik und die verwundeten Journalisten haben Glück. Geistesgegenwärtig hat Qasiir Cambara und Bile angerufen, und Cambara nennnt ihm die Namen einiger ihr bekannter Ärzte am Medinakrankenhaus sowie die Handynummern von vier Medizinern an zwei Privatkliniken und fügt hinzu, sie selbst werde versuchen, diese zu erreichen. Und tatsächlich, Cambara ruft Qasiir an, sie habe einen der Mediziner erreicht, der auf der Intensivstation ein Zimmer reservieren würde. Das Pflegepersonal warte auf sie.
Und das ist tatsächlich der Fall. Während die Verwundeten direkt in den Operationsraum gefahren werden, füllt Malik Formulare aus. Er sucht nach dem Abschnitt, in dem er seine Kreditkarteninformationen angeben kann, erfährt aber, daß die Klinik nicht die Möglichkeit hat, über Kreditkarte abzurechnen. Er gelobt zu zahlen, und der Sachbearbeiter glaubt ihm.
Der durchdringende Geruch von Chloroform klammert sich an seine Nasenwände, erinnert ihn daran, wie nahe er dem Tod war. Der süßliche Geruch setzt ihn beinahe außer Gefecht und er zwingt sich in eine aufrechte Sitzposition. Er wünscht, er könnte herumlaufen, nach draußen gehen und frische Luft schnappen. Aber er bleibt, wo er ist, auf einem übelriechenden, blutverschmierten Feldbett. Ihm ist übel, und er verspürt ein Gefühl der Enge und geht nun doch zum Luftschnappen nach draußen. In dem kleinen, vernachlässigten Garten findet er eine Bank und setzt sich mit einem Seufzer der Erleichterung.
Ein Mann kommt auf ihn zu und fragt, ob er sich dazusetzen dürfe, damit seinen müden Gliedern etwas Ruhe vergönnt sei. Malik nickt. Sein Handy klingelt und der Redakteur seiner Tageszeitung schlägt ihm vor, er solle einen kurzen Artikel über die Vorkommnisse in Mogadischu schreiben, damit dieser heute noch in Druck gehen kann. Malik tastet nach Kugelschreiber oder Bleistift, aber seine Taschen sind leer. Er fragt den Fremden und der Mann leiht ihm einen Bleistift. Malik bringt ein paar Schritte Abstand zwischen sich und den Mann, der sein Gespräch zu belauschen scheint, macht sich Notizen. Er willigt ein, die Story innerhalb der nächsten Stunden zu schicken, legt auf und gibt den Bleistift mit Dank zurück.
Der Fremde stellt sich vor, er betont seinen Namen Hilowleh auf eine Art, daß Malik sich fragt, ob er ihn kennen müßte. Das Gesicht kommt ihm vage bekannt vor. Aber er ist sich nicht sicher, ob sie sich schon einmal begegnet sind, und wenn ja, wann und wo. Vielleicht ist sein Hirn zu sehr in Unordnung geraten, um die verfügbaren Punkte zu einem Bild zu verbinden. Die langen Wimpern des Mannes, sein Zweitagebart und die abgerissene Erscheinung bieten ihm keine Anhaltspunkte. Etwas im Verhalten des Mannes scheint anzudeuten, daß es ein Fehler ist, sich mit ihm zu unterhalten. Ist er verlegen und wenn ja, warum? Liegt dem Mann
Weitere Kostenlose Bücher