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Gekapert

Titel: Gekapert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nuruddin Farah
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eingenistet hat, oder wohnt er hier?« fragt er. Als sich Grünschnabel an die Lippe faßt, als wollte er das Blut abwischen, versetzt ihm VerkünderDerWahrheit zwei weitere Schläge.
    Vollbart sagt zu VerkünderDerWahrheit, er solle aufhören, vor einem Fremden auf den Burschen einzuprügeln. »Siehst du denn nicht, daß ich mit dem Alten rede?« ergänzt er.
    »Ich bin kein Herumtreiber, ich bin Gast hier«, sagt Dhoorre.
    »Und wer wohnt hier?«
    »Mein Sohn«, antwortet er, »bei dem ich zu Besuch bin.«
    »Wie heißt dein Sohn?«
    Dhoorre wird jetzt bewußt, daß er unbeabsichtigt die Aufmerksamkeit auf seinen Sohn gelenkt hat. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als den Namen seines Sohnes zu nennen. Dhoorre hat zwei Söhne und keiner ist bei der Al-Schabaab gut angeschrieben. Der Sohn, der in Baidoa wohnt, ist Minister in der Übergangsregierung, mit der sich die Al-Schabaab im Krieg befindet, der andere Sohn, der in der ehemaligen Armee gedient hat, ist ebenfalls ein wohlbekannter Gegner der Al-Schabaab, denn er hat sich zur Säkularität bekannt und häufig in Radiointerviews gegen die Al-Schabaab ausgesprochen. Dieser Sohn ist amerikanischer Staatsbürger, der in Virginia lebt und momentan mit seiner Familie Mogadischu besucht. Er hat Dhoorre in diesem Haus aufgenommen. Es ist zu spät, um eine falschen Identität zu erfinden, und so nennt Dhoorre den Namen seines Sohnes.
    Vollbarts Gesichtsausdruck hat etwas Fließendes an sich, wie Schmutzwasser, das in einem Gully verschwindet. Dhoorre ist sich bewußt, daß die Al-Schabaab nur zu gerne einen seiner Söhne mit sofortiger Enthauptung bedenken würde und auch er wahrscheinlich nicht verschont werden wird.
    Auch wenn er sich nicht sicher ist, daß seine Aussage dem Grünschnabel nützt, hofft Dhoorre doch, daß sie nachdrücklich genug ist, die strittige Angelegenheit zu beenden. Er zeigt auf Grünschnabel. »Wenn Sie mich fragen, wollte dieser junge Kerl weder Ihnen noch Ihrer Sache schaden. Ich bitte Sie, ihn zu verschonen. Ich habe ihn in die Irre geführt. Islam bedeutet doch Frieden, das Versprechen auf Gerechtigkeit. Bitte.«
    Dhoorre nimmt hinter sich eine Bewegung wahr, und aus dem Augenwinkel sieht er VerkünderDerWahrheit mit der Waffe im Anschlag. Mit dem Gewehrkolben drückt er Dhoorre nieder. Auf einem Stuhl sitzend spürt der alte Mann im Genick die scharfe metallische Kälte der Waffe.
    »Du hast dich mit deinem Verhalten schuldig gemacht«, sagt Fußknecht zu Grünschnabel. »Warum hast du gelogen?«
    »Ich werd’s nicht wieder tun«, sagt Grünschnabel.
    Vollbart weist Grünschnabel an, sein Gewehr aus der Reisetasche zu holen. Grünschnabel tut, wie geheißen, furchtlos und unerschüttert. Während er auf Anweisungen wartet, fleht er keinen der Männer an, ihn oder den alten Mann zu verschonen.
    »Erschieß ihn«, sagt Vollbart.
    »Bitte«, sagt Dhoorre.
    Grünschnabel ist nicht klar, ob der Alte ihn darum bittet, nicht zu schießen, oder ob er »los, schieß doch« meint. Er schaut zu Vollbart hinüber, der damit beschäftigt ist, seinen langen, buschigen Bart zu befingern, ihn wie ein tief in Gedanken versunkener Philosoph zu zwirbeln.
    In einem Moment wie diesem, in dem Gewalt die Oberhand bekommt, denkt Dhoorre, zeigt sich die Tragödie in all ihren Facetten: ein Land, das erpreßt wird, ein Volk, das täglich Demütigungen ausgesetzt ist, eine Nation, der der Garaus gemacht wird.
    »Worauf wartest du?« fragt Fußknecht.
    Tödlich langsam vergeht die Zeit.
    »Schieß!« brüllt VerkünderDerWahrheit.
    Ich kann genausogut abdrücken und es hinter mich bringen, denkt Grünschnabel, ohne mit der Wimper zu zucken oder Bedauern zu verspüren, auch wenn ihm trotz seiner Jugend bewußt ist, daß ihm diese Tat wie ein Querschläger im Kopf hin und her schießen, ihn nachts vom Schlaf abhalten, ihn verstören und zappelig machen wird. Er weiß auch, daß er seinen eigenen Tod nur hinauszögert; sobald er den Alten erschossen hat, wird einer der Kufijas ihn dafür bezahlen lassen, daß er Dhoorre nicht sofort kaltgemacht hat. Er wünscht, er hätte auf seine ältere Schwester Wiila gehört, eine Flugbegleiterin, die ihm finanzielle Unterstützung anbot, wenn er sich nicht der Al-Schabaab anschließen und statt dessen zur Schule gehen würde. Oder auf seinen älteren Bruder mit dem Decknamen Marduuf, der ihn erfolglos für die Piraterie zu gewinnen versuchte.
    Grünschnabel benutzt den Schalldämpfer, schießt.
    Als die Kugel in Dhoorres Stirn

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