Gekehrte Straßen oder einfach nur darauf gespuckt (German Edition)
deutlich ausgeprägt
sein muss. Oder es ist schlichtweg purer Egoismus. Ich weiß es
nicht. Ich weiß aber, dass, wenn man solche Menschen daraufhin
anspricht, sie einen erstaunt anblicken und die Welt nicht mehr
verstehen. Das möchte ich ihm nicht antun, deswegen sage ich
nichts zu ihm, er hätte es nicht verstanden. Er scheint an
seinem Leben zu hängen und er scheint etwas bemerkt zu haben,
denn er macht den Mund auf. Er fragt mich, was ich so mache. Eine
sehr interessante Frage. Ich fange an zu erzählen und ende
damit, dass ich keine Ziehharmonika mehr spiele. Ich versuche in
seinem Gesicht zu lesen, aber es bleibt stets unverändert, stets
gleichgültig und das von Anfang an. Ich schaue ihn nicht
ununterbrochen an, denn er kann erstaunlicherweise den
Blickkontakt zu mir halten, aber er verzieht nicht die geringste
Miene dabei, egal was ich ihm auch erzähle. Ich denke, er trägt
keine Gefühle in sich und das direkt mir gegenüber. Ich
fange an zu zweifeln, irgendein Gen von ihm geerbt zu haben. Auch
dass er sich Mineralwasser bestellt hat, kommt mir merkwürdig
vor. Vielleicht mag es tatsächlich stimmen. Mutter hatte es mir
ein einziges mal erzählt und ich hatte es auf der Stelle
verdrängt. Ich wollte nicht glauben, dass ich einen kranken
Vater hatte. Ich wollte es als Kind nicht wahrhaben und jetzt bin ich
erwachsen und kenne mich mit den Höhen und Tiefen des Lebens
aus, habe vieles erlebt und gesehen und überlebt und kann es
doch nicht glauben, dass er wegen einer Alkoholsucht sein
Familienglück, also Mutter und mich und mein Lied auf der
Ziehharmonika in den Wind gesetzt hatte, ohne mich jemals in den Arm
genommen zu haben und uns für immer verlassen und uns soviel
Leid bereitet hatte, so dass Mutter gänzlich blind geworden ist
und er das Ende meines Liedes nicht mitbekam. Aber auffällig
genug, dass er an dem Glas Mineralwasser nippt, ohne wirklich einen
Schluck genommen zu haben. Er scheint generell Angst vor Wasser zu
haben, sei es um eine Insel drumherum oder nur in einem Glas.
Vielleicht sollte ich ihn zu einem Schwimmkurs anmelden. Ich
verdränge meine wirren Gedanken. Ich könnte ihm meine
Limonade anbieten; zur Not, wenn es sein müsste. Ich schaue ihn
an. Er gibt sich weiterhin reserviert und kontrolliert sich
selbstverständlich dabei. Es kommt alles anders, als ich gedacht
hatte oder es zumindest mir vorgenommen hatte, denn ich erzähle
weitere Belanglosigkeiten und versuche seine Augenfarbe zu erkennen,
aber ich erzähle nichts von dem, was ich mir zurechtgelegt
hatte. Ich weiß nicht weswegen, aber ich bekomme die
zurechtgelegten Worte einfach nicht heraus. Seine schwarze Jacke oder
auch sein Übergewicht scheinen mich einzuschüchtern.
Irgendwie war mir immer schon klar, dass es eine andere Farbe
ist, als ich gedacht hatte. Trotz andersfarbiger Augenfarbe konnte er
zuhören, ohne dazwischen zu reden, ohne einen Laut von sich zu
geben, nicht mit dem Kopf zu nicken und keinerlei Einwände zu
haben. Aber dadurch kommen mir Zweifel, ob er mich wirklich versteht.
Ich stelle ihm eine Frage, um Gehör und Verständnis zu
testen. Es dauert lange, bis dass er reagiert. Ein sehr gemütlicher,
schwarzer Mann. Vielleicht Autist von Geburt an. Bei so viel
Konzentration muss es in seinem Kopf heiß zugehen. Ich schaue
ihm dabei zu, beobachte seine Stirn, ob durch eine rötliche
Hautverfärbung etwas zu erkennen gewesen wäre, aber an
seiner Stirn hat sich nichts verfärbt und so schaue ich ihm auf
den Mund, dessen Lippen sich beim Bewegen nach unten ziehen, sich
verzerren und ihn hässlich erscheinen lassen. Er
verunstaltet sich selbst beim Reden. Wahrscheinlich weiß er
davon und hält sich deswegen verbal und auch sonst zurück.
Ich lehne mich nach hinten und muss feststellen, dass er gesamt eine
hässliche Erscheinung ist. Aber ich wische diese Feststellung
schnell beiseite, da kein Mensch für so etwas kann. Und ich
selbst erleichternd aufatme, wiederum kein Gen von ihm geerbt zu
haben. Er hat aufgehört zu reden und wartet auf eine Beurteilung
meinerseits oder er hat inzwischen genug von alledem. Vielleicht
bereut er es, doch zu diesem Treffen gekommen zu sein. Genügend
Zeit hatte er sich ja gelassen. Mein Brief gab ich in seiner Wohnung
vor über zwei Monaten ab. Lange hatte es gedauert, bis er einen
Brief wiederum bei mir hinterlegt und einen Treffpunkt für uns
ausgemacht hatte. Ich fragte mich die ganzen Tagen, warum er so lange
zum Handeln gebraucht hatte. Ich kenne jetzt die Antwort. Er
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