Geködert
zweite Mutter. Selbst wenn Frank mir wie ein zweiter Vater war, gab ihm das kein Recht zu derartigen Verallgemeinerungen über sie.
»Die Hennigs sind während der Nazizeit hochgekommen«, sagte Frank. »Ihr Mann war in der Partei, und eine Menge von den Leuten, mit denen sie verkehrte, hatten Scheiße am Stecken.«
»Zum Beispiel?«
»Sei doch nicht so bockig, Bernard. Lisl und ihre Freunde waren begeisterte Anhänger von Hitler bis zu dem Augenblick, als die Rote Fahne auf dem Brandenburger Tor gehißt wurde.« Er nippte an seinem Glas. »Und danach hat sie nur gelernt, ihre politischen Ansichten für sich zu behalten.«
»Vielleicht«, sagte ich widerstrebend. Es stimmte, Lisl war die erste, wenn es darum ging, dem Sozialismus irgendwelche Fehlschläge nachzuweisen.
»Und dann dieser Lothar Koch … Aber du weißt ja, was ich von dem halte.«
Frank war überzeugt, dass Lothar Koch, ein alter Freund von Lisl, eine dunkle Nazi-Vergangenheit hatte. Einer von Franks deutschen Spezis behauptete, Koch sei bei der Gestapo gewesen, aber es gab viele Leute, über die solche Gerüchte kursierten, und Frank selbst hatte das schon einigen Männern nachgesagt. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sich Frank mehr Gedanken über die Nazis machte als über die Russen. Aber das hatte er mit vielen von denen, die schon lange dabei waren, gemeinsam.
»Lothar Koch war nichts weiter als ein kleiner Angestellter«, sagte ich. Ich trank mein Glas aus und stand auf. »Und du bist nichts weiter als ein unverbesserlicher Romantiker, das ist dein Problem. Du hoffst immer noch, dass eines Tages Martin Bormann dabei überrascht wird, wie er in einer Wellblechhütte im Regenwald zusammen mit Hitler dessen Memoiren aufschreibt.«
Noch immer seine Pfeife paffend, erhob sich Frank und bedachte mich mit jenem Lächeln, das sagte: Na schön, du wirst schon noch sehen. Als wir an der Tür waren, sagte er: »Ich werde den Erhalt von Dickys Memorandum über Fernschreiber bestätigen, und irgendwann morgen, gegen Abend, können wir uns noch mal treffen, dann sage ich dir die Antwort, die du ihm mündlich geben kannst. Passt dir das?«
»Sehr gut sogar. Einen Tag zur Stadtbesichtigung kann ich gut gebrauchen.«
Er nickte wissend und nicht sonderlich beifällig. Einige von meinen Berliner Bekannten schätzte Frank überhaupt nicht. »Habe ich’s mir doch gedacht«, sagte er.
Es war ungefähr halb zwei, als ich Lisl Hennigs kleines Hotel erreichte. Wie verabredet hatte Klara mir die Tür aufgelassen. Behutsam stieg ich unter einem Gewölbe voller bröckelnder, vergilbter und von Spinnen eingewebter Putten die breite Treppe ins Hochparterre hinauf. Eine kleine Lampe auf einem Tischchen neben der Bar gab den verschmierten Barockspiegeln an den Wänden im Salon eben genug Licht, die schon zum Frühstück gedeckten Tische verschwommen zu reflektieren.
Die Speisekammer neben der Hintertreppe war als Schlafzimmer für Lisl eingerichtet worden, als wegen ihrer Arthritis der Weg in das Obergeschoss für sie zur Qual wurde. Unter der geschlossenen Tür war ein Lichtstreifen sichtbar, und man hörte ein merkwürdiges, unterbrochen brummendes Geräusch. Ich klopfte leise.
»Komm herein, Bernd«, rief sie. Ihre Stimme klang, entgegen allem, was Frank erzählt hatte, überhaupt nicht schwach. Sie saß im Bett und sah so hellwach aus wie immer, einen Haufen Kissen im Rücken und die rot- und grüngemusterte Bettdecke mit Zeitungen übersät. Zeitungslektüre war Lisls Leidenschaft. Pergamentlampenschirme färbten das Licht golden und verwandelten ihr wirres Haar in einen Heiligenschein. Sie hielt eine kleine Kunststoffschachtel in der Hand und schob und zog daran herum. »Sieh mal, Bernd, sieh dir das bloß mal an!«
Von neuem machte sie sich an der kleinen Schachtel zu schaffen. Hinter mir erklang, von einem metallischen Rasseln gefolgt, ein lautes Brummen. Ich muss erschrocken zusammengefahren sein. Lisl lachte. »Sieh dir das an, Bernd. Aber pass auf! Ist es nicht wunderbar?« Sie kicherte entzückt.
Ich sprang zur Seite, als ein kleiner olivgrüner Jeep über den Teppich dahergefahren kam, aber er ging in die Kurve und raste geradewegs auf den Kamin zu, bis er gegen dessen Gitter knallte – worauf er kehrtmachte und, mit schwankender Antenne, weiter durchs Zimmer fuhr.
Obwohl sie mit der Fernsteuerung des Spielzeugs noch nicht ganz zurechtkam, strahlte Lisl vor Entzücken. »Hast du schon jemals so was gesehen, Bernd?«
»Nein«, antwortete ich, um sie nicht zu
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