Geködert
hereinzulocken. Ich weiß noch immer nicht, ob das den Tatsachen entspricht oder nicht, aber wir wollten beide auf keinen Fall ein Risiko eingehen.
»Musikkritikern ist nicht zu trauen«, meinte ich. »Das hätte ihm schon Toscanini sagen können.«
»Ich wette, diese Jukebox ist nicht versichert«, sagte Werner. Er war der Typ, der die Zufälle des Lebens zunächst mal in Hinsicht auf Gestehungskosten, Prozente, Verzinsung, Risiko, Versicherung bewertet.
»Sie war billig«, erklärte ich, »und Willi dachte, sie würde mehr Teenager anziehen.«
»An diesen abgebrannten Halbstarken wird er sich sicher dumm und dämlich verdienen!« sagte Werner. Er kam sich sehr ironisch vor. »Er sollte lieber froh sein, wenn sie draußenbleiben, anstatt ihnen auch noch hinterherzulaufen.«
Obwohl wir von Kindesbeinen an Freunde waren, konnte Werner mich noch immer verblüffen. Häufig hatte ich ihn erklären hören, dass Jugendkriminalität nur eine Folge war von zuviel Fernsehen, alleinerziehenden Eltern, Arbeitslosigkeit oder dem übermäßigen Genuß von Süßigkeiten. War Werners neue reaktionäre Einstellung jungen Leuten gegenüber etwa ein Zeichen dafür, dass er langsam alt wurde – so wie ich es schon seit einer Ewigkeit war?
Werner verdiente sein Geld mit Wechselbürgschaften. Das heißt, er finanzierte Exporte aus Osteuropa in den Westen mit harten Währungen, die er borgte, wo er sie kriegen konnte. Er musste hohe Zinsen zahlen und lebte von kleinen Gewinnspannen. Das Geschäft war hart, aber Werner hatte offensichtlich eine glückliche Hand im Umgang mit den unglücklichen Zufällen und günstigen Gelegenheiten dieses seltsamen Randgebiets der Finanzwelt. Wie viele seiner Konkurrenten hatte er mit dem Bankgeschäft keinerlei Erfahrung, und seine berufliche Vorbildung erschöpfte sich in dem Erwerb der Fähigkeit, mit einem japanischen Taschenrechner umzugehen.
»Ich dachte, du magst junge Leute, Werner«, sagte ich.
Er sah mich mit gerunzelten Brauen an. Sonst beschimpfte er mich immer als intolerant und engstirnig, aber in unserer Stammkneipe waren wir beide lieber unter unsresgleichen, wie die meisten Berliner auch. Man brauchte gar nicht weit die Potsdamer Straße entlangzugehen, bis man zu der Überzeugung kam, dass die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht vielleicht doch keine schlechte Idee war.
Heute war Werner irgendwie verändert. Es war nicht der neue Bart – ein schöner Vollbart, mit dem er bald aussehen würde wie ein wohlhabender wilhelminischer Brauereikönig oder wie ein Geschäftsfreund von Sir Basil Zaharoff. Es war auch nicht nur, dass er wieder stark zugenommen hatte; nach jeder seiner Schlankheitskuren nahm er stark zu. Auch dass er so viel zu früh zu unserer Verabredung erschienen war, gab nicht den Ausschlag. Aber er war ungewöhnlich unruhig. Während wir auf das Essen warteten, hatte er dauernd mit dem Pfefferstreuer und dem Salzstreuer gespielt, sich an den Ohrläppchen gezogen und an die Nase gefasst und aus dem Fenster gesehen, als sei er in Gedanken ganz woanders. Ich fragte mich, ob er schon an seine nächste Verabredung dachte, denn irgendwas anderes schien er noch vorzuhaben – so, wie er da saß, in einem maßgeschneiderten Anzug und seidenen Hemd, war er jedenfalls nicht angezogen für diese Art von Lokal.
Wir saßen bei Leuschner. Dieses Café in der Nähe des Potsdamer Platzes war in seiner Glanzzeit ziemlich bekannt und Treffpunkt berühmter Leute gewesen. Inzwischen lag diese Glanzzeit schon recht lange zurück, das Lokal war schäbig und fast leer. Kein Wunder angesichts der Tatsache, dass der Potsdamer Platz, einst der verkehrsreichste Europas, jetzt, zwischen Mauer und Stacheldrahtverhau, nur noch für die Bewacher der Staatsgrenze der DDR zugänglich war, die ihre scharfen Hunde im märkischen Sand spazierenführten und dabei darauf achteten, dass ihre Mitbürger auf der anderen Seite des Potsdamer Platzes blieben, wo sie hingehörten. Seitdem sich das städtische Leben aus der toten Zone an der politischen Westseite der Sektorengrenze (die dort der geographischen Südseite entsprach) zurückgezogen hatte, war das Café Leuschner zu einem Lokal verkommen, wo man aufpassen musste, zu wem man was sagte, und wo die Polizei regelmäßige Personenkontrollen durchführte.
Einst standen Luxushotels in dieser Gegend am Anhalter Bahnhof, der in den dreißiger Jahren der größte der Welt war. Damals kamen täglich hundertfünfundvierzig Züge dort an, davon zweiundachtzig
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