Geködert
Schreibzimmer, als ich ihm die Kassette überbrachte. Er hielt sich immer in diesem Raum auf, der im Erdgeschoss lag. Als einziger Raum des Clubhauses ist er direkt von der Straße zugänglich, man kann ihn also betreten, ohne den Haupteingang zu benützen oder Fragen des Pförtners zu beantworten. Hier wurden die Stühle für die Cocktailpartys aufbewahrt sowie ein Billardtisch, den der zuständige Ausschuss nicht dem Sperrmüll übergeben wollte. Der Raum roch nach altem Leder und Politur. Man hörte nichts von einer Cocktailparty, nur die Motoren der Autobusse, die auf der regengepeitschten Straße draußen vorüberkrochen. Sir Henry saß vor einem Schreibpult am Fenster, über ihm an der Wand donnerte mit geblähten Nüstern ein durchgehendes Pferd der Leichten Brigade durch dick aufgetragene Ölfarbe. Unter dem Gemälde, das die Erinnerung jener katastrophalen Kavallerieattacke, bei der die ganze Leichte Brigade draufging, wachhielt, erblickte man hinter Glas und Rahmen getrocknete Blumen aus dem »Tal des Todes« (in das die Leichte Brigade hinabstürmte, damals auf der Krim) und eine Locke aus der Mähne von Wellingtons Lieblingspferd.
- 330 -
»Ach, Sie sind es«, sagte Sir Henry geistesabwesend, als er die Hände nach der Dokumentenkassette ausstreckte.
»Ja, Sir Henry«, sagte ich und gab ihm die Kassette. »Ich hoffe, Sie haben ein paar Minuten Zeit für mich.«
Er runzelte die Stirn, die Kassette vor sich auf dem Pult. So was machte man natürlich nicht. Anständige Leute schlichen sich nicht in jemandes Club ein, um ihm derart die Pistole auf die Brust zu setzen. Immerhin rang er sich ein kurzes Lächeln ab, ehe er in die Tasche griff und einen Schlüssel an einer langen, silbernen Kette zum Vorschein brachte.
»Natürlich, natürlich, großartig, das Vergnügen ist ganz meinerseits.« Er hoffte immer noch, er hätte sich verhört und ich würde mich verabschieden und ihn seinen Akten überlassen.
»Samson, Sir. Aus der Deutschland-Abteilung.«
Er blickte zu mir hoch und rieb sich das Gesicht wie ein Mann, der aus tiefem Schlaf erwacht. Endlich sagte er: »Hmm.
Brian Samson. Natürlich.« Er war ein seltsamer alter Knabe, ein schlaksiger, unbeholfener, ausgemergelter Teddybär, dessen Bärenhaftigkeit durch das rötliche grobe Tweedjackett, das er trug, und sein langes Haar noch betont wurde. Sein Gesicht war faltiger, als ich es in Erinnerung hatte, und seine Gesichtsfarbe war in jenem violetten Ton nachgedunkelt, den manche Krankheiten mit sich bringen.
»Brian Samson war mein Vater, Sir. Ich heiße Bernard Samson.« Der D.G. setzte seine Brille auf und musterte mich fragend. Die Brille hatte seine Frisur in Unordnung gebracht, so dass jetzt über beiden Ohren Haarbüschel wie teuflische Hörner in die Höhe ragten. Die Brillengläser blitzten. Das Gestell war für sein langes, schlaffes Gesicht zu klein und saß nicht richtig auf der Nase.
»Bernard Samson. Ja, ja. Aber natürlich.« Er schloss die Kassette auf, um einen Blick auf die Papiere zu werfen. Er schien sich darauf zu freuen wie ein Kind auf ein neues
- 331 -
Spielzeug. Ohne aufzublicken und ohne sonderlichen Eifer sagte er: »Wenn wir diesen Kellner zu fassen kriegen, werden wir Ihnen eine Tasse Kaffee bringen lassen … oder was anderes zum Trinken.«
»Danke, ich möchte nichts, Sir Henry. Ich muss gleich zurück ins Büro, ich fliege heute nachmittag noch nach Berlin.« Ich griff nach dem Deckel der Kassette und drückte sie sachte, aber bestimmt zu.
Staunend sah er auf zu mir. Eine derartige Insubordination kam einem tätlichen Angriff schon sehr nahe, aber ich war geschützt von der glänzenden Ritterrüstung der Selbstgerechten und Unschuldigen. Er ließ sich seinen Ärger nicht anmerken.
Er war ein vollendetes Produkt jener britischen Eliteerziehung, deren Ziel die Ausbildung umgänglicher und höflicher Philister zu sein scheint. So bat er mich also, Platz zu nehmen und ihm zu sagen, was ich ihm zu sagen hätte, und mir soviel Zeit zu nehmen, wie ich brauchte.
Im Büro hieß es oft, der Alte sei unzurechnungsfähig, aber meine Vorbehalte, einem verrückten Chef meine Ängste darzulegen, waren bald verschwunden. Ich beschloß, meinen Besuch bei Dodo in Hampton Wick und meine seltsame Begegnung mit Jim Prettyman unter den Tisch fallen zu lassen.
Wenn das Department sagte, Jim sei tot, sollte er meinetwegen ruhig tot bleiben. Von Anfang an hörte mir Sir Henry aufmerksam und interessiert zu. Als ich ihm erzählte,
Weitere Kostenlose Bücher