Geködert
erfüllte mich mit Schrecken. Es kam mir so vor, als sollte mir die Erinnerung an meinen Vater entrissen werden.
»Ein Gläschen noch?« fragte Frank. Er legte ehrerbietig seine Pfeife in dem Aschenbecher ab und ging zu dem Getränkeservierwagen. »Ich mache die Flasche sowieso auf.«
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»Also gut. Ja, gern«, antwortete ich und setzte mich wieder, während Frank mir ein Glas von dem braunen Wein eingoß.
Ich sagte: »Als ich das letzte Mal bei Lisl wohnte, waren nur drei Zimmer belegt.«
»Das ist noch nicht mal das Schlimmste«, sagte Frank. »Der Arzt meint, dass die Anstrengung auf jeden Fall zuviel für sie ist. Zu Werner hat er gesagt, dass sie höchstens noch sechs Monate zu leben hat, wenn sie sich nicht zur Ruhe setzt.«
»Arme Lisl.«
»Ja, arme Lisl«, sagte Frank und reichte mir das bis zum Rand gefüllte Glas. Es klang ein bisschen sarkastisch; für gewöhnlich nannte er sie ja Frau Hennig.
»Ich weiß, du konntest sie nie leiden«, sagte ich.
»Ach komm, Bernard, das ist doch nicht wahr.« Er nahm seine Pfeife wieder zur Hand und setzte sie in Gang.
»Wirklich nicht?«
»Ich habe gesagt, dass sie ein Nazi war«, sagte er in gemessenem Ton und lächelte, als gefiele ihm seine Heuchelei.
»Das ist doch Unsinn.« Lisl war für mich eine zweite Mutter. Selbst wenn Frank mir wie ein zweiter Vater war, gab ihm das kein Recht zu derartigen Verallgemeinerungen über sie.
»Die Hennigs sind während der Nazizeit hochgekommen«, sagte Frank. »Ihr Mann war in der Partei, und eine Menge von den Leuten, mit denen sie verkehrte, hatten Scheiße am Stecken.«
»Zum Beispiel?«
»Sei doch nicht so bockig, Bernard. Lisl und ihre Freunde waren begeisterte Anhänger von Hitler bis zu dem Augenblick, als die Rote Fahne auf dem Brandenburger Tor gehißt wurde.«
Er nippte an seinem Glas. »Und danach hat sie nur gelernt, ihre politischen Ansichten für sich zu behalten.«
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»Vielleicht«, sagte ich widerstrebend. Es stimmte, Lisl war die erste, wenn es darum ging, dem Sozialismus irgendwelche Fehlschläge nachzuweisen.
»Und dann dieser Lothar Koch … Aber du weißt ja, was ich von dem halte.«
Frank war überzeugt, dass Lothar Koch, ein alter Freund von Lisl, eine dunkle Nazi-Vergangenheit hatte. Einer von Franks deutschen Spezis behauptete, Koch sei bei der Gestapo gewesen, aber es gab viele Leute, über die solche Gerüchte kursierten, und Frank selbst hatte das schon einigen Männern nachgesagt. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sich Frank mehr Gedanken über die Nazis machte als über die Russen.
Aber das hatte er mit vielen von denen, die schon lange dabei waren, gemeinsam.
»Lothar Koch war nichts weiter als ein kleiner Angestellter«, sagte ich. Ich trank mein Glas aus und stand auf.
»Und du bist nichts weiter als ein unverbesserlicher Romantiker, das ist dein Problem. Du hoffst immer noch, dass eines Tages Martin Bormann dabei überrascht wird, wie er in einer Wellblechhütte im Regenwald zusammen mit Hitler dessen Memoiren aufschreibt.«
Noch immer seine Pfeife paffend, erhob sich Frank und bedachte mich mit jenem Lächeln, das sagte: Na schön, du wirst schon noch sehen. Als wir an der Tür waren, sagte er:
»Ich werde den Erhalt von Dickys Memorandum über Fernschreiber bestätigen, und irgendwann morgen, gegen Abend, können wir uns noch mal treffen, dann sage ich dir die Antwort, die du ihm mündlich geben kannst. Passt dir das?«
»Sehr gut sogar. Einen Tag zur Stadtbesichtigung kann ich gut gebrauchen.«
Er nickte wissend und nicht sonderlich beifällig. Einige von meinen Berliner Bekannten schätzte Frank überhaupt nicht.
»Habe ich’s mir doch gedacht«, sagte er.
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Es war ungefähr halb zwei, als ich Lisl Hennigs kleines Hotel erreichte. Wie verabredet hatte Klara mir die Tür aufgelassen.
Behutsam stieg ich unter einem Gewölbe voller bröckelnder, vergilbter und von Spinnen eingewebter Putten die breite Treppe ins Hochparterre hinauf. Eine kleine Lampe auf einem Tischchen neben der Bar gab den verschmierten
Barockspiegeln an den Wänden im Salon eben genug Licht, die schon zum Frühstück gedeckten Tische verschwommen zu reflektieren.
Die Speisekammer neben der Hintertreppe war als Schlafzimmer für Lisl eingerichtet worden, als wegen ihrer Arthritis der Weg in das Obergeschoss für sie zur Qual wurde.
Unter der geschlossenen Tür war ein Lichtstreifen sichtbar, und man hörte ein merkwürdiges, unterbrochen brummendes Geräusch. Ich klopfte
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