Geködert
Göring. Fritz Esser – der später mit Göring in Nürnberg vor Gericht stehen sollte – empfahl sich mit zackigem Namenszug. Die Winters hatten also mit den Spitzen der nationalsozialistischen Bewegung verkehrt. Und Lisl, Frau Winters Schwester?
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»Die meisten Leute heutzutage trinken«, sagte die alte Frau.
»Es nimmt viel zu sehr Überhand.« Ohne meine Antwort abzuwarten, nahm sie eins der Bilder vom Tisch und wandte sich, das Foto in der Hand, an ihre Tochter und sagte: »Laß uns allein, Ingrid. Ruf uns, wenn das Essen fertig ist.«
»Ja, Mama.«
Da Frau Winter ihrer Tochter diese Anweisung in deutscher Sprache gegeben hatte, fuhr ich automatisch in der gleichen Sprache fort, als ich nun sagte, wie sehr ich es zu schätzen wüßte, dass sie mich noch einmal habe empfangen wollen.
Das Gesicht der alten Frau hellte sich auf in einer Weise, die ich nicht für möglich gehalten hätte. »Aber Sie sprechen ja perfekt deutsch … sind Sie etwa Deutscher?«
»Ich halte mich schon dafür. Aber meine deutschen Freunde scheinen ihre Zweifel zu haben.«
»Sie müssen Berliner sein.« Sie hielt noch immer das Foto in der Hand, schien es aber vergessen zu haben.
»Ich bin in Berlin aufgewachsen.«
»Wenn ich Sie reden höre, ist es, als würde ich Champagner trinken. Wenn sich meine Tochter nur nicht diesen schrecklichen bayerischen Dialekt angewöhnt hätte! Warum haben Sie gestern nicht deutsch geredet? Jedenfalls freue ich mich, dass meine Tochter mich gedrängt hat, Sie noch mal einzuladen.«
»Ihre Tochter hat Sie gedrängt?«
»Sie findet, ich hätte in der Sache mit dem Haus entgegenkommender sein sollen, nicht so preußisch«, sagte sie grinsend. »Sie findet, ich sollte Lisl erlauben, es diesem Juden zu vermachen, wenn es das ist, was sie will. Die arme Lisl war immer der Einfaltspinsel in der Familie. Deshalb hat sie ja auch diesen Klavierspieler geheiratet.« Es war eine Erleichterung, sie deutsch sprechen zu hören, denn Frau Winters Englisch war nicht viel besser als mein Französisch.
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Sie sah mich an. Offenbar erwartete sie eine Antwort auf das Angebot ihrer Tochter. »Das ist aber sehr großzügig«, sagte ich.
»Mir kann es egal sein. Wenn ich sterbe, gehört sowieso alles Ingrid. Sie kann ebensogut jetzt schon entscheiden.«
»Lisl hat Geld auf das Haus aufgenommen, glaube ich.« Sie ging darauf nicht ein.
»Ingrid sagt, die Erbschaft würde mehr Ärger machen, als sie wert ist. Vielleicht hat sie recht. Sie kennt sich in diesen Sachen besser aus als ich …«
»Es werden natürlich Steuern zu bezahlen sein …«
»Und Ingrid sagt, wir fahren besser, wenn wir uns die Mühe mit den Formularen und Steuererklärungen sparen. Wo soll ich auch hier jemanden auftreiben, der sich mit der deutschen Steuer auskennt?«
Ich antwortete nicht. Wenn man in Betracht zog, wie viele reiche Deutsche eine Villa an der Côte d’Azur hatten, dazu die Flotten deutscher Yachten, die in den französischen Häfen lagen, dann war das meines Erachtens kein unüberwindliches Problem.
»Aber ich habe noch Sachen in dem Haus«, sagte sie,
»persönliches Eigentum.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es deswegen irgendwelche Schwierigkeiten geben sollte«, sagte ich.
»Die Ormoulu-Uhr. Meine Mutter wollte unbedingt, dass ich die kriege. Erinnern Sie sich, die noch gesehen zu haben?«
»Ja«, sagte ich. Das Ding war unvergeßlich: absolut scheußlich und über und über besetzt mit Engeln, Drachen, Pferden und weiß der Himmel was noch allem. Und selbst wenn man sie wirklich übersehen sollte, ihre hallenden Schläge konnten einen die ganze Nacht wach halten. Aber trotzdem sah ich da eine Schwierigkeit: Lisl hatte oft und oft beteuert, wie sehr sie an diesem scheußlichen Gegenstand hing.
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»Außerdem noch ein paar Kleinigkeiten. Fotos meiner Eltern, ein kleines Kissen, das ich bestickt habe, als ich noch klein war, und ein paar Andenken, Briefe und andere Papiere, die meinem verstorbenen Mann gehörten. Ich werde Ingrid nach Berlin schicken, sie soll diese Sachen holen. Es wäre tragisch, wenn sie weggeworfen würden.«
»Es wird ja nichts über den Zaun gebrochen«, sagte ich. Ich hatte Angst, sie könnte Lisl anrufen, ehe Werner mit ihr geredet hatte. In dem Fall war mit einem furchtbaren Krach zu rechnen.
»Es handelt sich um persönliche Papiere«, sagte sie.
»Sachen, die für niemanden außer mir von Interesse sind.« Sie nickte. »Ingrid wird sie mir holen. Dann kann
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