Geködert
sich heute viel kräftiger und läßt fragen, ob Sie nicht Lust hätten, zum Mittagessen zu kommen?«
»Danke. Ich habe Lust«, sagte ich. Gloria, die mitgehört hatte, wedelte heftig mit dem Zeigefinger für den Fall, dass mir das Kopfschütteln nicht aufgefallen war. »Aber Miss Kent hat eine Verabredung in Cannes. Sie könnte mich vorbeibringen und später abholen, wenn Sie mir sagen wollen, wann es Ihnen passt?«
»Zwischen elf und drei«, sagte die jüngere Frau Winter, ohne zu zögern. Die Familie Winter schien auf alles eine Antwort parat zu haben.
Gloria setzte mich fünf Minuten vor der Zeit am Gartentor ab.
Das war nie schlecht, wenn man zu Deutschen ging. »Pünktlich auf die Minute«, sagte Ingrid Winter beifällig, als sie mir die Tür öffnete. Wir wechselten die gleichen Höflichkeitsfloskeln wie am Tage zuvor, während sie meinen Mantel nahm, aber heute schien sie umgänglicher. »Lassen Sie mich schnell die Tür zumachen. Dieser gelbe Staub dringt überall ein, wenn der
- 109 -
Wind vom Süden kommt. Der Scirocco. Kaum zu glauben, dass der Sand von der Sahara bis hierher kommt, nicht?«
»Kaum zu glauben«, bestätigte ich.
Sie schloss meinen Regenmantel in einen Schrank, auf den große orange Blüten gemalt waren. »Meine Mutter ist eine sehr alte Dame, Mr. Samson.«
Ich sagte, ja natürlich sei sie das, und Ingrid Winter sah mich an, als wollte sie mir damit etwas Besonderes sagen. Sie wirkte fast besorgt. Dann wiederholte sie: »Eine sehr alte Dame.« Nach einer kleinen Pause setzte sie hinzu: »Kommen Sie!«
Damit machte sie kehrt und ging voran, nicht in das Wohnzimmer, sondern einen gefliesten Korridor entlang, in dem Kupferstiche alter deutscher Städte hingen, zu einem Raum an der Rückseite des Hauses. Natürlich war hier nicht immer ihr Schlafzimmer gewesen. Wie Lisl hatte sie ein Zimmer im Parterre für sich herrichten lassen. Wenige Menschen in Inge Winters Alter wollten Treppen steigen, bevor sie ins Bett gingen.
Sie lag nicht im Bett. Sie trug eine Art graues Wollkleid, das den Kitteln ähnlich sah, in die arme Patienten staatlicher Krankenhäuser gekleidet werden, und saß, einen schweren Kaschmirschal um die Schultern gelegt, in einem großen eckigen Sessel. »Nehmen Sie Platz«, sagte sie. »Möchten Sie irgend etwas trinken?«
»Nein, danke«, sagte ich. Jetzt verstand ich Ingrids Ängste.
Das hier war kein Schlafzimmer, es war ein Reliquienschrein.
Das Verblüffende waren jedoch nicht so sehr die vielen Andenken und Erinnerungsbilder, mit denen sich Inge Winter umgeben hatte – das findet man bei vielen alten Leuten –, sondern die Auswahl. Ein großer Tisch an der Wand war vollgestellt mit gerahmten Fotos, wie bei alternden Schauspielern, die sich auf diese Weise der immerwährenden
- 110 -
Zuneigung ihrer Kollegen versichern wollen. Nur waren das hier keine Filmstars.
Eine beherrschende Stellung nahm in seinem silbernen Rahmen ein großes Porträt Adolf Hitlers ein. Ich hatte solche Fotos schon anderswo gesehen. Es war eins der von Hoffmann aufgenommenen offiziellen Führerbilder, mit denen Hitler alte Kämpfer und neue Freunde bedachte. Dieses Exemplar war aber nicht nur wie andere dieser Art mit dem hastig abgekürzten Namenszug autorisiert. Es war ausdrücklich und eigenhändig Herrn und Frau Winter gewidmet. Übrigens war es nicht das einzige Bild Hitlers in der Versammlung. Ein glänzendes Pressefoto zeigte ein gutaussehendes Paar in mittleren Jahren mit Hitler und einem großen Hund auf einer Terrasse, schneebedeckte Berggipfel im Hintergrund.
Wahrscheinlich Berchtesgaden, der Berghof. Vorkriegszeit, Hitler war noch in Zivil. Er trug einen hellen Anzug und machte, mit ausgestreckter Hand, Miene, den Hund zu streicheln. In der Frau, die wirklich eine Schönheit war, mit langem, glänzendem Haar und in einem damals topmodischen Kleid, erkannte ich jetzt Inge Winter. Der Mann – vermutlich Herr Winter –, dem der dunkle Nadelstreifenanzug etwas zu eng war, war mit halb geöffnetem Mund erwischt worden und sah dementsprechend verdutzt und leicht lächerlich aus. Aber das war vielleicht kein zu hoher Preis für die Ehre, in vertrautem Gespräch mit dem Führer verewigt zu werden. Ich konnte mich nicht losreißen von diesen Erinnerungsfotos. Da waren gewidmete Bilder, die Joseph Goebbels mit Frau und allen ihren Kindern zeigten. In schwarzer Uniform und mit ausdruckslosem Gesicht grüßte Heinrich Himmler. Sorgfältig retuschiert lächelte Hermann
Weitere Kostenlose Bücher