Geködert
Freiern ihrer geliebten Tochter vorlegen. Aber bald wurde ihm die Rolle lästig, und er unterwies uns in den Regeln der Kunst: »Tizian liebte Rot und Blau. Seht euch irgendeins von seinen Gemälden an, und ihr werdet sehen, dass ich recht habe. Deshalb hat er immer rothaarige Frauen gemalt. Phantastische Frauen. Der Alte verstand was von Frauen, was?« Er lachte herzhaft und nahm einen schnellen Schluck aus seinem Glas. »Und seht euch seine späten Bilder an … mal abgesehen von der Assunta und diesem Zeug … Seht euch die wahren Tizians an: Die sind mit den
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Fingern gemalt. Er war der erste Impressionist, anders kann man das nicht sagen. Ich sag’ dir, Darling, Tizian war ein Gigant.«
Zu Glorias Interesse an einer britischen akademischen Bildung bemerkte er: »In Oxford oder Cambridge kannst du nichts Wissenswertes lernen. Aber ich bin froh, dass du wenigstens nicht Romanistik studieren willst. Letztes Jahr hatte ich einen jungen Mann hier, der in Romanistik promoviert hatte, ich glaube in Oxford … oder war es Cambridge?
Jedenfalls konnte der arme Kerl keine Speisekarte lesen, Darling! Was sind quenelles? fragte er mich. Bodenlos unwissend. Und dann dieser Akzent! Die einzigen Menschen, die einen Engländer, der französisch spricht, verstehen, sind Leute, die in England Französisch gelernt haben.«
Über das Glücksspiel: »Wenn man mit zwei Würfeln spielt, ändern sich natürlich die Chancen. Und da gibt es Leute, die auf die Zwei genauso setzen wie auf die Sechs.«
»Und warum sollten sie nicht?« fragte Gloria.
Er drehte sich zum Feuer und versetzte, mit den Händen auf die Lehnen seines Stuhles gestützt, dem frischen Holzscheit einen Fußtritt, dass die Funken stoben.
»Nie! Mit zwei Würfeln! Denk nur mal dran, auf wie viele verschiedene Weisen du mit zwei Würfeln sechs werfen kannst: zwei Dreien, eine Vier und eine Zwei, eine Zwei und eine Vier, fünf und eins – oder umgekehrt, eins und fünf. Das sind fünf verschiedene Möglichkeiten. Aber es gibt nur eine Chance, eine Zwei zu werfen: Beide Würfel müssen genau richtig fallen. Das gleiche mit einer Zwölf.«
Während er Gloria das erklärte, sah er mich plötzlich an, als sei ihm gerade wieder eingefallen, dass er ja die Ernsthaftigkeit meiner Absichten zu prüfen hatte. Falls er zu einem Ergebnis kam, ließ er sich jedoch nichts anmerken. Er konnte seine Gefühle erstaunlich gut verbergen, wenn er wollte.
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Und so ging es den ganzen Abend lang weiter. Mit donnerndem Motor raste er durch Kunst und Wissenschaft, Gastronomie und Astronomie, antike griechische Architektur und moderne Politik, um dann und wann eine Vollbremsung zu machen und mich mit diesem durchbohrenden Blick zu bedenken, wenn ihm wieder einfiel, dass ich der Mann war, der allnächtlich mit dem Töchterchen seines alten Freundes ins Bett ging.
Während einer dieser abrupten Pausen in der Unterhaltung hielt er mir plötzlich die Faust unter die Nase. Ich starrte ihn an und rührte mich nicht. Klick! Er hatte ein Springmesser in der Hand, und als nun die verborgene Klinge aus dem Griff sprang, stach mir die Spitze fast ins Auge.
»Dodo!« schrie Gloria entsetzt.
Langsam zog er das Messer zurück und ließ die Klinge wieder einschnappen. »Haha. Ich wollte nur mal sehen, wie gut seine Nerven sind«, sagte er und schien enttäuscht, dass ich mir meinen Schreck nicht hatte anmerken lassen.
»Ich finde das nicht witzig«, sagte Gloria.
Gloria hatte zwei Flaschen Cognac aus dem Duty-Free-Shop am Flughafen mitgebracht, und Dodo hatte die erste schon geöffnet, ehe wir ganz bei der Tür herein waren. Ich hielt mich an den lokalen Rosé, der leicht und erfrischend war, aber Dodo sprach auch während des Essens – schwarze Oliven, Hühnerfrikassee mit Gemüse, Ziegenkäse, Äpfel und Apfelsinen – dem Cognac so eifrig zu, dass er, als wir fertig waren, bereits die zweite Flasche entkorkte. Als wir auf den Patio vor seiner Hütte hinaustraten, um die Aussicht zu genießen, redete er so laut, dass man ihn bis Nizza hören konnte. Der Himmel war klar, und alle Sterne des Universums schienen über seinem Haus versammelt, aber es war verdammt kalt. Onkel Dodos Überschwenglichkeit tat das keinen Abbruch.
»Es ist kalt«, sagte ich. »Verdammt kalt.«
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»Hundertfünfzig Jahre alt«, antwortete er und wischte sich Cognac vom Kinn. »Und die Wände sind einen Meter dick, Darling.«
Gloria lachte. »Sollten wir vielleicht reingehen?« fragte sie.
Ich
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