Gekroent
sie die kühle Nachtluft hätte einatmen können, aber als sie wiederzu sich kam, wieder rational denken konnte, fand sie sich in ihrer Kammer wieder. Sie rollte sich auf der fellbedeckten Bettstatt zusammen, zog die Knie an die Brust und umklammerte sie mit zitternden Händen. Was passierte mit ihr? Was war Kai zugestoßen?
Brina steckte ihre Nase durch den Ledervorhang und sprang zu ihr aufs Bett. Morrigan schluchzte erleichtert und schlang die Arme um die große Katze. „Ich habe nichts mit Kais Tod zu tun. Ich habe nichts getan. Ich war nicht einmal in der Höhle.“
Nur Mut, meine Kostbare …
„Nein!“ In einer sinnlosen Geste bedeckte Morrigan ihre Ohren mit den Händen. „Ich will keine Stimmen mehr hören! Ich will mich nicht mehr fragen, ob ich eine Göttin oder einem Dämon zuhöre. Könnt ihr mich nicht einfach in Ruhe und irgendwo dazugehören lassen? Kann ich nicht zur Abwechslung mal ein kleines bisschen normal sein?“
Sie wusste, wie jämmerlich sie klang – wie ein heulendes Kleinkind. G-pa würde ihr vermutlich sagen, sie solle sich zusammenreißen. G-ma würde ihr empfehlen, sich hinzusetzen und nachzudenken. Sie hatte nicht das Gefühl, irgendetwas davon tun zu können, aber sie würde ihr letztes bisschen göttliche Kraft dafür herschenken, ihre Großeltern wieder bei sich zu haben und sich sicher, beschützt und geliebt zu fühlen.
Brina beschnüffelte Morrigans Gesicht, und Morrigan merkte, dass ihre Wangen nass waren. Mit einem Zipfel ihres Kleides wischte sie sich die Tränen ab. Was würde jetzt passieren? Würde Birkita sich von ihr abwenden? Und was war mit Kegan? Morrigan küsste Brinas perfekte Nase und drückte ihre Wange in das weiche Fell der Katze. „Er sagte, er ist erschaffen worden, um mich zu lieben. Ich frage mich, ob er das immer noch denkt“, flüsterte sie. Für einen kurzen Augenblick überlegte sie, ob sie wohl ihren Weg durch den Kristallfindling zurück nach Oklahoma finden würde.
Erschöpft schloss sie die Augen und fiel dicht an Brina gekuschelt in einen unruhigen Schlaf.
Sie träumte, zurück in Oklahoma zu sein. Es war einer dieser Herbsttage, die sie immer so geliebt hatte, wenn die drückende Hitze des Sommers einer kühlen Brise aus dem Norden gewichen war. Die Blätter der großen Sumpfeiche fingen gerade an, ihre Farbe zu wechseln. Morrigan saß auf einem der rostigen Metallstühle aufder vorderen Veranda. Ein Glas mit süßem Tee von ihrer Grandma stand auf dem großen, flachen Sandstein, der als Tisch diente. Morrigan nahm einen tiefen Zug der kühlen Luft. Sie roch nach Bäumen und G-pas Schmetterlingsflieder. Es fühlte sich so gut an, zu Hause zu sein!
Wegzulaufen ist keine Lösung, mein Kind.
Morrigan schaute nach rechts. Sie saß auf einem der anderen Metallstühle. Ihr erster Gedanke war, dass sie unglaublich schön war. Ihr zweiter, dass sie niemals Rhiannon mit Shannon verwechselt hätte. Die beiden Frauen hatten das gleiche Gesicht und die gleiche Gestalt, aber diesen Ausdruck hatte sie auf keinem der vielen Fotos von Shannon je gesehen – diese Mischung aus Traurigkeit und Zärtlichkeit.
„Du bist meine Mom.“
Rhiannons Lächeln war fröhlich, aber in ihren Augen glitzerten ungeweinte Tränen. „Das bin ich tatsächlich.“
„Ist das hier echt? Ich meine, bist du wirklich in meinem Traum oder bilde ich dich mir nur ein?“
„Manchmal sind unsere Träume die realsten Momente unseres Lebens.“
„Das klingt weder wie ein Ja noch wie ein Nein.“
„Du wirst noch lernen, dass die wichtigsten Dinge im Leben nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantwortet werden können. Dafür sind sie zu komplex.“
„Erzähl mir davon. Mein Leben ist im Moment so komplex, dass ich es nicht mehr verstehe und schon gar nicht mehr weiß, was ich jetzt tun soll“, sagte Morrigan.
„Du wirst wissen, was zu tun ist. Wenn die Zeit reif ist, eine Entscheidung zu treffen, wirst du verstehen, was du tun musst“, erwiderte Rhiannon.
„Aber was heißt das? Kannst du mir nicht ein wenig echte Hilfe geben? Mir sagen, was ich tun soll?“
„Ich kann keine Entscheidungen für dich treffen – das kann niemand. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass Entscheidungen, die aus negativen Gefühlen wie Wut und Eifersucht und Angst heraus getroffen werden, meistens falsch sind. Stattdessen vertrau auf Liebe und Loyalität und Ehre. Vertrau dir selbst, mein Kind, und du wirst die Göttin in dir finden. Sie wird dich zur wahren Göttin und zur Wahrheit
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