Gelb-Phase: Mein Pöstchen bei der Post - Geschichten aus dem Intimleben des Gelben Riesen
mich immerhin ein wenig an die Schulzeit, da waren die Einsatzzeiten ähnlich … nur dass ich da keinen Einsatz zeigte – hier aber musste ich es.
Beziehungsweise sollte ich es … Denn mit Franz Wasner war ich dem wahrscheinlich vorsichtigsten, ängstlichsten Postbeamten der Republik zugeteilt worden. An „Einsatz zeigen“ war nicht im entferntesten zu denken – meine einzige Tätigkeit war, dass ich mir morgens ein Höckerchen holte, um es dann links neben Franz‘ Hochstuhl zu stellen, so dass ich hinter seinem wuchtigen Körper verschwand und Kunden mich bestenfalls erst gar nicht sahen.
Gut, ich hatte noch immer Aknepickel. Und Idealgewicht besaß ich auch nicht. In der grau-blauen Postkleidung sah jeder beschissen aus, also auch ich. Aber musste man mich deswegen verstecken?! Warum war dem Kollegen Wasner das so peinlich, mit mir in einer Schalterbox gesehen zu werden?
„Franz, du musst den Jungen aber mal ran lassen!“. Immerhin: Hermann Sommermeyer hatte es gemerkt, dass ich immer noch wie festgetackert auf meinem Hocker saß, als er zu seinem einzigen Doppeldienst der Woche vormittags um Zehn zur zweiten Schicht am anderen Schalter erschien.
„Der lernt doch sonst nix!“ Das sah ich auch so. Denn abgesehen davon, dass ich aus meiner Hockerperspektive eh nichts hätte mitbekommen können: Franz Wasner hatte auch noch nicht bemerkt, dass er nicht mehr in der Schule ist. Warum sonst hielt er bei jedem Eintrag, den er in die zahlreichen Listen oder Postsparbücher machte, die linke Hand über das, was er da schrieb? Wie bei einer Klassenarbeit früher! Und glauben Sie mir: ICH kannte das Gefühl nur zu gut, wie das ist, wenn einen keiner abschreiben ließ! Dafür kannte ich das Gefühl, wie es war, wenn jemand bei mir abschreiben wollte, irgendwie gar nicht… Und ich hatte NIE die Hand davor! NIE !
„Aber Hermann … ich kann … also ich kann doch nicht … weißt du … er ist doch erst … also nein, die Dienstvorschrift sagt …“ – Franz konnte nie einen ganzen Satz ausformulieren. Seine devote Ader verbat ihm das einfach. Anfangs hatte ich noch gedacht, der Arme hat bestimmt so einen Drachen zu Hause, so eine Furie von Ehefrau, die ihn klein machte, sobald er abends auch nur diese Tasche auf den Boden statt auf den dafür vorgesehenen Platz auf dem Garderobenschrank stellte – aber nein: Seine Frau – ich lernte sie später mal auf der Betriebsfeier zu seinem, was weiß ich, fünfundsiebzigsten Dienstjubiläum kennen – war eine so liebe, ruhige Dame; die konnte unmöglich die Schuld an seinem Duckmäusertum tragen. Dafür musste eine schlechte Kindheit verantwortlich gewesen sein. Pommerland halt. Kinderlieder und so. Da kommt so was dann bei heraus.
„Die Dienstvorschrift, die Dienstvorschrift! Franz, lass den Jungen auf den Stuhl, der kann das … jedenfalls so ungefähr.“, lamentierte Franz Sommermeyer weiter in einer Riesenwolke Zigarrenrauch. Vor ihm musste sein Kollege anscheinend einen Heidenrespekt haben, denn: Das Wunder geschah! Zitternd zwar, aber: Franz stand auf und wir tauschten die Plätze! Es sah zum Schreien aus, aber nun thronte ich auf dem hohen Stuhl und Franz Wasner sank aufs Höckerchen nieder, das beim ersten Kontakt mit seinem Sitzfleisch stark ächzte.
Nun war ich der King im Ring – und bedient e meinen ersten Kunden in der Ära Wasner/Wissen!
„Bitteschön?“ fragte ich die ältere Dame auf der anderen Seite der Scheibe.
„Postsparbuch. Festgelegt. Möchte ich eröffnen jetzt. Mit vereinbarter Kündigungsfrist. Vier Jahre. Wie viel Zinsen gibt es da im Moment?“
Wollte die mich verarschen??? Da hatte ich gekämpft, mit Unterstützung des Kollegen Zigarre, äh Sommermeyer, um auf diesen Stuhl zu kommen – und dann kommt die mit so was! Was wusste denn ich von Zinsen? DAS Thema wurde ja wohl schon ausführlich im Eignungstest damals bei der Oberpostdirektion behandelt – und so sollte sich doch wohl herum gesprochen haben, dass man mir diesbezügliche Fragen einfach nicht stellt! Aber diese alte Frau, die kam mir damit hinter’m Ofen hervor, völlig aus dem Nichts – was ich als reinste Bosheit empfand.
Denn natürlich bedeutete das, nach gefühlten 32 Sekunden, den wiederholten Stuhltausch. Weil Franz Wasner die Prozedur einer Sparbucheröffnung ( Wie ich später merken sollte: es war IMMER eine Prozedur mit Dutzenden von Formularen und dauerte gern mal eine halbe Stunde, währenddessen am betroffenen Schalter nichts anderes mehr ging…
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