Geliebt
Und ohne die andere Hälfte war auch die erste nutzlos. Was sie nun also hatten, war die Hälfte eines Rätsels. Angesichts des Zustandes der Schriftrolle war es ohnehin erstaunlich, dass sie so lange überlebt hatte. Hätte sie nicht in einem schmalen, luftdichten Metallröhrchen gesteckt, wäre bestimmt nichts mehr davon übrig gewesen. Das Röhrchen ruhte inzwischen sicher in Caitlins Tasche.
Zu dritt hatten sie die mysteriöse Nachricht auf der halben Schriftrolle studiert, aber allen war klar gewesen, dass sie nutzlos war. Die Worte und Sätze waren in der Mitte durchgerissen worden. Ihnen blieben nur Bruchstücke, Teile eines Rätsels.
Es lautete wie folgt:
Die vier Reiter …
Sie verlassen …
betreten einen Ring …
versammeln sich …
und finden die …
neben der vierten …
Immer wieder hatten sie versucht, die Sätze zu vervollständigen. Aber so sehr sie sich auch bemüht hatten, ohne die andere Hälfte war es ihnen nicht gelungen.
Ernüchtert hatten sie schließlich aufgegeben. Roger hatte ein wenig kleinlaut gewirkt, obwohl er natürlich nichts dafürkonnte. Es gab keinerlei Spuren oder Hinweise darauf, wo sich die zweite Hälfte befinden könnte.
Also hatten Caitlin und Caleb beschlossen, der einzigen anderen Spur nachzugehen, die sie noch hatten: die Aquinnah-Klippen, von denen Caitlin geträumt hatte.
Sie hatte Mühe, sich den Traum wieder ins Gedächtnis zu rufen. Er kam ihr bereits fern und undeutlich vor, als hätte sie ihn schon vor Monaten geträumt. Allmählich fragte sie sich sogar, ob sie es überhaupt geträumt hatte. Sie wollte Caleb nicht enttäuschen und ihn nicht noch tiefer in dieses scheinbar aussichtslose Unterfangen verstricken.
Schließlich ließen sie die Wälder hinter sich und erreichten eine wunderschöne Graslandschaft. Die Gräser schwankten im Wind und wurden von der Spätnachmittagssonne angestrahlt, die sie in einem sanften Rot leuchten ließ. Die Aussicht war wunderschön. Unter ihnen erkannte Caitlin eine Farm, Schafe und Kühe weideten auf den weiten Wiesen.
Schon bald konnte man den Salzgeruch des Meeres riechen. Erneut veränderte sich die Landschaft, jetzt flogen sie über Dünengras, das dann allmählich in Sand überging.
Schließlich kamen die Klippen in Sicht.
Sie waren schlichtweg atemberaubend. Hoch ragten sie in den Himmel auf, die Felsen leuchteten in einem geheimnisvollen Rot. Vor allem jetzt in der Spätnachmittagssonne wirkten die riesigen Klippen so lebendig, als stünden sie in Flammen.
Am Fuß der Felswand befand sich ein Sandstrand, der mit Felsbrocken jeglicher Größe und Form übersät war. Das Ganze hatte etwas Prähistorisches und Märchenhaftes, es schien so unwirklich wie ein Strand auf dem Mars. Caitlin konnte nicht fassen, dass es so etwas überhaupt gab.
Rose musste das Mystische auch gespürt haben, denn sie streckte ihren kleinen Kopf aus Caitlins Jacke und schnupperte die salzige Luft.
Als sie über den Klippen kreisten und dann zur Landung ansetzten, kam ihr der Ort plötzlich seltsam vertraut vor. Sie hatte eindeutig das Gefühl, als hätte sie ihn schon einmal gesehen. Ganz genau. Irgendwann einmal musste sie mit ihrem Dad hier gewesen sein.
Sie hatte keine Ahnung, ob sie etwas finden würden, aber offenbar waren sie genau an dem Ort, an dem sie sein sollten.
Der Strand war menschenleer. Nachdem Caleb sanft auf dem Sand gelandet war, setzte Caitlin Rose auf den Boden. Sofort rannte der kleine Wolf los, sprang ins Wasser und schwamm mit den Wellen ans Ufer zurück.
Caitlin und Caleb mussten unwillkürlich lächeln.
Langsam gingen sie den Strand entlang und ließen die Umgebung auf sich wirken. Schweigend nahm Caleb ihre Hand.
Der Strand wurde von dem Geräusch der sich brechenden Wellen und vom Geruch der Salzluft beherrscht. Caitlin schloss die Augen und atmete tief durch. Die frische Luft tat gut.
Aufmerksam ließ Caleb die Blicke über den Strand und die Felsen schweifen.
»Das hier ist definitiv der richtige Ort«, erklärte Caitlin schließlich. »Ich spüre, dass ich mit ihm hier gewesen bin.«
Caleb nickte. »Das kann gut sein. Für uns Vampire ist das ein sehr bedeutender Ort.«
Überrascht sah Caitlin ihn an. »Warst du denn schon mal hier?«
»Schon oft«, antwortete er. »Die Aquinnah-Klippen gehören zu unseren heiligen Orten; sie sind eins der ältesten Energiefelder der Erde. Die roten Felsen und der Sand speichern die uralte Energie, die wir brauchen, und geben sie wieder an uns ab.
Menschen
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