Geliebte Betrügerin
Kerrich, Sie haben es vielleicht vergessen. Die Königin erwartet Sie.«
»Ich habe es nicht vergessen.«
»Dann muss ich Sie auffordern, mir zu folgen. Queen Victoria ist aufs Höchste interessiert, Ihr Mündel kennen zu lernen.«
»Ich habe mein Mündel nicht dabei«, sagte Kerrich. »Ich muss das Kind erst noch holen.«
Herr Muller zwinkerte, als verstünde er nicht recht. »Dies ist ein informeller Empfang, aber man erwartet von Ihnen dennoch pünktliches Erscheinen. Sie werden Ihrer Majestät das erklären müssen. Und nun folgen Sie mir, bitte.«
»Oh, nein.« Pamelas Stimme war kaum noch ein Flüstern.
Kerrich zögerte, hatte aber keine Wahl. Er wusste nicht, wo Beth war. Er konnte sie stundenlang suchen. Pamela hinter Herrn Muller durch die Menge bugsierend, sagte er: »Ich werde es ihr erklären. Sie wird mir gestatten, nach Beth zu suchen.«
»Ihre Majestät ist eine Zuchtmeisterin, was das Protokoll angeht«, sagte Pamela leise. »Das wird ihr überhaupt nicht gefallen.«
Pamela hatte Recht. Sie kannte die Königin, und was auch immer passieren würde, die nächsten Minuten würden für sie beide eine Tortur werden.
Kerrich entdeckte als ersten Albert, der alle überragte. Als die Menge sich teilte, sah er an Alberts Seite Victoria stehen. Klein, einundzwanzig Jahre alt, ziemlich plump und munter lächelnd wie selten in ihrem reglementierten Leben. Die beiden standen, von einem Bogen gerahmt, an der Wand.
Ihre Nachmittagskleidung war gut, aber keineswegs übertrieben. Sie trugen weder Zepter noch Krone. Doch hätte sie keiner mit einfachen Gästen verwechselt.
Niemand drängte sich um das Monarchenpaar, um die beiden herum war der Raum leer geblieben. Sie waren, klar ersichtlich, Monarchen in Erfüllung ihrer Pflicht. Und im Moment bestand diese Pflicht darin, die Familien von Mitgliedern des Oberhauses zu treffen.
Kerrich kannte viele der Anwesenden. Kenner des Hofs, einflussreiche Leute, die Victoria seit langem kannte und schätzte. Bastionen der Gesellschaft und Freunde Kerrichs, auch wenn er nie den Fehler gemacht hätte zu glauben, sie hätten an seiner demütigenden Enttarnung nicht ihre helle Freude.
Lord und Lady Pitchford standen so weit auseinander wie man gerade noch auseinander stehen konnte, wollte man noch als Ehepaar durchgehen. Vermutlich hatten sie sich über Billy und seine Possen gestritten. Oh, Schreck! Kerrich schaute sich um. War dieser kleine Satansbraten etwa hier?
Colbrook grinste und musste natürlich »Vollmond in 'ner Nebelnacht« flüstern. Bastard.
Lady Colbrook stand dünn und elegant am Fenster, wo ein Sonnenstrahl das Funkeln ihrer kunstvoll geschliffenen Diamanten aufnahm und ihre anmutige, hellgelbe Seidenrobe den Ton ihres hellblonden Haares annehmen ließ.
Kerrich war überrascht, Lord Swearn zu sehen – sollte er nicht bei seiner Familie auf seinem Landsitz in Suffolk sein?
Lady Albon stand allein da. Natürlich, Lord Albon war ja auf und davon zu seiner Mätresse, als Kerrich zur Tür hereingekommen war.
Herr Muller trat vor und kündigte sie an. »Lord Kerrich und Miss Pamela Lockhart.«
Kerrich vernahm Gemurmel, dann war laut und vernehmlich Colbrook, dieser Schwachkopf, zu hören. »Schauen Sie nur! Ich habe Ihnen doch gesagt, was für eine Schönheit Miss Lockhart ist. Schätze, sie hat Kerrich hinters Licht geführt.«
Neben Kerrich fuhr Pamela zusammen.
Die Anwesenden begriffen, dass es sich bei Pamela um jene Frau handelte, der sie in Kerrichs Haus begegnet waren. Verblüfftes Raunen erhob sich, und Kerrich erinnerte sich seiner eigenen Fassungslosigkeit, als der Regen einer reizlosen Frau die Maske heruntergewaschen hatte und eine Schönheit zum Vorschein gekommen war. Seine Freunde würden ihren Spaß daran haben, dass Pamela ihn verschaukelt hatte. Kerrich war einfach viel zu reich und erfolgreich, als dass sie das nicht genossen hätten. Aber die Schadenfreude, die auf seine Kosten ging, würde zu Gerede über Pamelas Vater führen. Pamela hatte Recht gehabt. Das hier war eine Tortur für sie. Er hätte am liebsten den Arm um sie gelegt und sie getröstet, aber dazu war keine Zeit, und wenn dieser Tag vorüber war, konnte er von Glück sagen, wenn sie ihm überhaupt noch gestattete, sie zu berühren.
»Lord Kerrich«, rief die Königin aus. »Wie schön, Sie auf diesem Treffen respektabler
Familien zu
sehen.« Sie betonte »Familien«, als glaube sie, er hätte das Wort noch nie zuvor gehört.
Kerrich realisierte erfreut, dass die
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