Geliebte Betrügerin
dunklen Augengläser rutschten Pamela die Nase hinunter. Als sie sie hochschob, fiel es ihr wieder ein: Sie war nicht die junge Gouvernante Pamela, die sich von Straßenräubern und Arbeitgebern ausnehmen ließ. Sie war die strenge, sachliche Miss Lockhart. Sie war so reizlos, dass Lord Kerrich erleichtert gewesen.war, als sie nicht auf seine Avancen reagiert hatte. Die Person, die sie spielte, hatte genügend Rückgrat, einem ganzen Waisenhaus voller verschüchterter Kinder Mut zu machen. Und diese Person würde es nicht zulassen, dass Beth die Nerven verlor. Ausgerechnet jetzt, wo das Kind gerade dem Waisenhaus entkommen war und den Spießrutenlauf bei Kerrich durchstehen musste. Pamela setzte sich kerzengerade und sagte: »Unsinn. Du bist nicht schüchtern. Erinnere dich doch, wie ruhig du dich mir vorgestellt hast, nachdem ich dich für einen jungen gehalten hatte. Und wie mutig du warst, als du mir meine Uhr zurückgeholt hast! Nein, junge Lady, du bist nicht schüchtern. Du bist eine Löwin, die der Gefahr trotzt.«
Beth wich vor Pamelas heftigem Tonfall zurück. »Bin ich das?«
»Aber sicher.« Die Kutsche bog Richtung Hyde Park Gardens ab und kam vor Kerrichs Stadthaus zum Stehen.
»Ich bin wahrscheinlich nur mutig, wenn irgendwas Schlimmes passiert«, sagte Beth vorsichtig.
Pamela nickte mit der Entschiedenheit einer erfahrenen Mentorin. »Ein deutliches Zeichen für Mut.«
Timothy, der junge Lakai, öffnete den Schlag. In einer Hand hielt er den Schirm, die andere bot er ihnen an. Pamela nahm seine Hand, stieg aus der Kutsche, drehte sich um und sah Beth rückwärts die Trittleiter hinunterstolpern. »Ah, da haben wir gleich eine Gelegenheit für unsere erste Lektion. Man gestattet dem Lakalen immer, einem die Hand zu reichen, wenn man aus der Kutsche steigt.«
Beth sah zu dem livrierten, teilnahmslosen Diener auf. »Ich konnte aber ohne seine Hilfe raus.« Dann schien ihr einzufallen, dass sie vielleicht seine Gefühle verletzte. »Aber trotzdem vielen Dank, Mister«, sagte sie.
Der Diener unterdrückte mühsam ein Lachen.
Doch die Liebenswürdigkeit des Kindes gefiel ihm, das sah Pamela an seiner steifen, kleinen Verbeugung.
Kerrich musste sie behalten. Pamela tauchte tiefer in die Rolle der energischen Miss Lockhart. »Sehr gut. Man dankt den Dienstboten grundsätzlich. Falls möglich, indem man sie mit Namen anspricht. Das hier ist Timothy.«
»Timothy«, wiederholte Beth.
»Nun stell dich gerade hin und nimm die Schultern zurück.«
Beth richtete sich auf.
»Du kommst jetzt mit mir. Und denk daran – du bist eine Löwin.«
»Ja, Miss Lockhart«, antwortete Beth tapfer.
Doch ihre kleine Hand klammerte sich fest an Pamelas. Pamela blickte zu ihr hinunter und lächelte sie ermutigend an.
»Das ist die richtige Einstellung!«, sagte sie, obwohl Beth so bleich geworden war, dass die Schmutzflecken auf ihrem Gesicht sich erst richtig abhoben.
Timothy hielt den Schirm über sie, als sie zur Treppe gingen, die zur wuchtigen Flügeltür von Kerrichs Stadthaus hinaufführte.
Beth schlurfte zögernd dahin. »Miss Lockhart? Ist das eine Pension oder ein Hotel … was ist das für ein Haus?«
Pamela blieb stehen und sah der enormen Aufgabe ins Gesicht, die sich ihr stellte – ein Findelkind auf eine Maskerade vorzubereiten, um die Londoner Gesellschaft zum Narren zu halten. Die Königin zum Narren zu halten, die nur allzu gut wusste, wie Kerrich tickte, was sich aus seinen beiläufigen Bemerkungen hatte schließen lassen. Sogar Pamela, die die Häuser der Reichen gewohnt war, zählte Kerrichs Haus mit all seinem Prunk zu den größten, die sie je gesehen hatte. Beth, aufgewachsen bei Eltern aus der Mittelschicht und schließlich in einem heruntergekommenen Waisenhaus, war schlecht darauf vorbereitet, mit solchem Überfluss umzugehen.
Aber Beth war ein Kind. Und Kinder passten sich schnell an – zumindest redete Pamela sich das ein. Ihre Geste schloss die breite Freitreppe ein, die romanischen Bogenfenster und die steinernen Adler, die hoch auf der Backsteinfassade lauerten. »Das ist Lord Kerrichs Haus«, sagte sie.
Beth hob das Kinn und schaute zum Dach, vier Stockwerke über der Straße, hinauf. »Hat er eine große Familie? Kinder?« Sie bat um die Auskunft, als hätte sie mit einem Mal bemerkt, wie wenig sie über den Mann wusste, in dessen Händen ihr Schicksal lag.
»Keine Angst, er hat nur einen Cousin, den ich gestern getroffen habe und der ein feiner Gentleman zu sein scheint. So
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