Geliebte der Finsternis
Wulf auf, als er das Wohnzimmer betrat, wo Chris auf einer Couch lümmelte. Genau das brauchte er in dieser Nacht - noch jemanden, der nicht tat, was man ihm sagte.
O Thor, besaß denn keiner der beiden auch nur ein kleines bisschen Vernunft? »Habe ich nicht gesagt, du sollst deine Sachen packen?«
»Geh packen, putz dir die Zähne, lass dich bumsen. Ständig machst du mir Vorschriften.« Chris zappte durch die TV-Kanäle. »Wenn du auf meine Füße schaust, siehst du mein gepacktes Zeug. Jetzt warte ich nur noch auf den nächsten Befehl. Besten Dank.«
Erst jetzt entdeckte Wulf den schwarzen Rucksack vor dem Sofa. »Ist das alles, was du mitnimmst?«
»Ja, ich brauche nicht viel. Was ich sonst noch benötige, kann ich sicher kaufen. Weil die Knappen vom großen erhabenen Rat ganz genau wissen, dass ich ein Glückskind bin, das sie verwöhnen müssen. Sonst wird der große furchtbare Wikinger über sie herfallen.«
Wulf warf ein Sofakissen auf den Kopf des Jungen. Nur ganz sanft.
Damit erzielte er nicht die geringste Wirkung. Chris schob das Kissen hinter seinen Rücken. Dann drückte er wieder auf die Tasten der Fernbedienung.
In Gedanken immer noch bei der Frau, die er in seinem Gästetrakt zurückgelassen hatte, sank Wulf auf die andere Couch. Wann immer er an Cassandra dachte, geriet er in
Verwirrung. Solche Gefühle kannte er nicht, sie fehlten in seinem Erfahrungsschatz. Er war ein Mann der Tat. Wenn Probleme auftauchten, pflegte er sie zu lösen.
Er konnte Cassandra nicht ignorieren. Nun ja, theoretisch schon. Doch das wäre ein Fehler. Um sie loszuwerden, gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder warf er sie hinaus und ließ sie allein gegen die Daimons kämpfen. Oder er vertraute sie Corbin an.
Aber Ash hatte ihm befohlen, sie zu schützen. Und da der Atlantäer ihm diesen Auftrag erteilt hatte, musste es einen Grund dafür geben. Denn Acheron tat nichts ohne verdammt gute Gründe.
»Was weiß Cassandra über uns?«, fragte Chris.
»Anscheinend alles. Wie gesagt, sie ist eine Apollitin.«
»Zur Hälfte.«
»Halb oder ganz - macht das einen Unterschied?«
Chris zuckte die Achseln. »Zumindest einen - ich mag sie nämlich. Weil sie nicht so hochnäsig ist wie die meisten reichen Nutten auf dem College.«
»Sei nicht so vulgär, Christopher.«
Der Junge verdrehte die Augen. »Tut mir leid, ich habe vergessen, wie sehr du solche Wörter hasst.«
Das Kinn in eine Hand gestützt, beobachtete Wulf den TV-Bildschirm. Gewiss, Cassandra war anders. In ihrer Nähe kam er sich wieder wie ein Mensch vor. Sie erinnerte ihn daran, wie es war, ein normales Leben zu führen und sich akzeptiert zu fühlen.
So etwas hatte er lange nicht mehr empfunden.
»Ach, du meine Güte, ihr beide seht aus wie ›Trautes Heim, Glück allein‹.«
Wulf richtete sich auf und sah Cassandra in der Tür stehen. Kopfschüttelnd ging sie zu ihm und gab ihm das Handy.
»Also wirklich …« Chris lachte und drehte den Ton leiser. »Weißt du, dein Anblick in meinem Haus - da flippe ich fast aus.«
»Glaub mir, ich flippe fast aus, weil ich in deinem Haus bin.«
Diesen Kommentar ignorierte er. »Ganz zu schweigen von der unheimlichen Tatsache, dass du dich an Wulf erinnern konntest, als du in dieses Zimmer zurückkamst. Irgendwie fühle ich mich immer noch verpflichtet, euch beide miteinander bekannt zu machen.«
Wulfs Handy begann Black Sabbaths »Ironman« zu spielen, und er klappte es auf. Als er sich meldete, nahm Cassandra neben Chris Platz.
»Was macht sie hier?«
Bei Wulfs unhöflicher Frage runzelte sie die Stirn.
»Jetzt telefoniert er mit dem Sicherheitsdienst«, erklärte Chris.
»Wieso weißt du das?«
»Wegen des Songs. Wulf findet es amüsant, dass sein Handy ›Ironman‹ spielt, wenn einer meiner Bewacher anruft. Die wohnen im Security-Haus, weiter unten beim Gartentor. Offenbar ist jemand in die Zufahrt gebogen und will reinfahren.«
Cassandra hatte stets gedacht, das Sicherheitsbestreben ihres Vaters wäre paranoid. »Was ist das hier? Fort Knox?«
»Nein«, erwiderte Chris ernsthaft. »Ins Knox kann man einbrechen, und man kommt auch raus. Aber wenn man unser Haus verlässt, wird man von mindestens zwei Wachtposten verfolgt.«
»Das hört sich so an, als hättest du schon versucht, über die Mauer zu klettern.«
»Oft genug.«
Lachend erinnerte sie sich, was Wulf in ihrem Zimmer erklärt hatte. »Ja, dein Herr und Meister hat betont, das sei sinnlos.«
Wulf beendete sein Telefonat und stand
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