Geliebte der Finsternis
und er las die Wahrheit in ihren Augen.
»Wärst du dazu fähig?«, fragte er. »Könntest du einen unschuldigen Menschen töten, um dein Leben zu retten?«
»Das weiß ich nicht.« Sie legte die Jogginghose und das T-Shirt aufs Bett. »Angeblich wird es nach dem ersten Mal leichter. Und sobald man eine fremde Seele in sich trägt, verändert man sich. Man wird etwas anderes. Eine böse, gefühllose Kreatur. Ein Bruder meiner Mutter verwandelte sich in einen Daimon. Als ich sechs Jahre alt war, kam er zu ihr und drängte sie, seinem Beispiel zu folgen. Doch sie weigerte sich. Da versuchte er, sie zu ermorden. Letzten
Endes tötete ihn ihr Bodyguard, während meine Schwestern und ich uns in einem Schrank versteckten. Es war einfach schrecklich. So gut war Onkel Demos immer zu uns gewesen - bis zu seiner Transformation.«
Die Trauer in ihrem Blick krampfte Wulfs Herz zusammen. Unvorstellbar, welches Grauen sie in ihrem jungen Leben schon gesehen hatte.
Aber seine eigene Kindheit war auch nicht einfacher gewesen. Die Schande, die Demütigung. Nach all den Jahrhunderten spürte er immer noch die brennende Qual.
Manche Schmerzen verebbten niemals.
»Und du?«, fragte sie und schaute ihn über ihre Schulter an, weil der Spiegel ihn nicht reflektierte. »Ist es dir leichter gefallen, einen Menschen zu töten, nachdem du zum ersten Mal ein Leben ausgelöscht hast?«
Ihre Frage erzürnte ihn. »Niemals habe ich jemanden ermordet, nur mich selbst und meinen Bruder beschützt.«
»Ah, ich verstehe«, antwortete sie in ruhigem Ton. »Also glaubst du, es wäre kein Mord, wenn du in das Haus fremder Leute einbrichst und sie bestiehlst, wenn sie dich dann bekämpfen, statt sich deiner Brutalität zu unterwerfen, und du sie umbringen musst?«
Beschämt dachte er an seine ersten Raubzüge. Damals hatte sein Volk weite Reisen unternommen, in anderen Ländern Dörfer überfallen, wenn die Nacht hereingebrochen war. Aber seine Leute wollten niemanden töten, sondern möglichst viele Menschen am Leben lassen. Insbesondere, weil sie Sklaven brauchten, die sie gefangen nahmen und auf ausländischen Märkten verkauften.
Voller Entsetzen erfuhr Wulfs Mutter, dass er zusammen mit Erik und den Söhnen einiger Nachbarn nichts ahnende Leute angreifen und ausrauben würde.
» Meine Söhne sind für mich gestorben«, verkündete sie
und wies ihnen die Tür ihres bescheidenen Heims. » Niemals will ich euch beide wiedersehen.«
Das war tatsächlich die letzte Begegnung. Im nächsten Frühling starb sie an einer Fieberkrankheit. Ihre Tochter bezahlte einen jungen Dorfbewohner, der Wulf und Erik aufspürte und ihnen die traurige Nachricht überbrachte.
Bevor sie heimkehren und der Mutter die letzte Ehre erweisen konnten, verstrichen drei Jahre. Inzwischen war der Vater niedergemetzelt und die Schwester von Eroberern verschleppt worden. Wulf reiste nach England, um sie zu befreien. Dort war Erik gestorben, nachdem sie das kleine Dorf, in dem Brynhild lebte, verlassen hatten.
Sie hatte sich geweigert, die Brüder zu begleiten. » Was ihr beide gesät habt, muss ich ernten. Mein Schicksal ist Gottes Wille. Jetzt bin ich eine Sklavin - genau wie jene, die ihr verkauft habt. Und wozu, Wulf? Für Ruhm und Reichtum? Lass mich in Ruhe, mein Bruder. Von deinen kriegerischen Taten will ich nichts wissen.«
In seiner törichten Verblendung kehrte er ihr den Rücken. Ein Jahr später war sie getötet worden, als die Anglier ihr kleines Dorf überfallen hatten. Das Leben war der Tod - die einzige unumstößliche Wahrheit.
Das hatte er in seinem menschlichen Dasein gelernt und die Erkenntnis als Dark Hunter ausgelebt.
Er wandte sich von Cassandra ab. »Damals war alles anders.«
»Wirklich?«, fragte sie. »Nie zuvor hörte ich, im Mittelalter wären die Menschen einfach nur Schafe gewesen, die man ungestraft niedermetzeln durfte.«
Erschrocken zuckte sie zusammen, als er zu ihr herumfuhr, heiße Wut in den dunklen Augen. »Falls du erwartest, ich würde mich für mein Verhalten entschuldigen, muss ich dich enttäuschen. Ich wurde in ein Volk
hineingeboren, das nur die Kraft des Schwertarms achtete. Weil mein Vater nicht kämpfen wollte, wurde ich gnadenlos verspottet. Immer wieder lachten die anderen Jungen mich aus, während ich aufwuchs. Sobald ich alt genug wurde, bewies ich ihnen, dass ich meinem Vater nicht glich, und kämpfte an ihrer Seite. Ja, ich tat Dinge, die ich bereue. Wer kann schon von sich behaupten, er hätte niemals einen
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