Geliebte der Nacht
war da wahrscheinlich kein bisschen anders als andere.
Nur dass er … anders war.
Sie hatte den Eindruck, dass er anders war als jeder andere Mensch, den sie bis jetzt getroffen hatte. Er war in sich gekehrt, fast verschlossen. Und definitiv gefährlich. Sie konnte ihn sich nicht in einem Lehnstuhl vor dem Fernseher sitzend vorstellen, genauso wenig wie in einer festen Beziehung mit einer Freundin, ganz zu schweigen von Ehefrau und Familie. Was sie wieder zu dem Gedanken zurückbrachte, dass er ein besseres Angebot erhalten und sich entschieden hatte, sie zu versetzen – ein Gedanke, der ihr weit mehr zu schaffen machte, als er es eigentlich hätte tun sollen.
„Vergiss ihn“, schalt sich Gabrielle leise selbst, als sie ihren schwarzen Mini Cooper an den Rand einer Straße draußen vor der Stadt rollen ließ und den Motor abstellte. Ihre Kameratasche und ihre Fotoausrüstung lagen neben ihr auf dem Beifahrersitz. Sie hob sie auf und nahm eine kleine Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Dann steckte sie ihre Schlüssel in ihre Jackentasche und stieg aus dem Auto.
Sie schloss die Tür leise und sah sich rasch um. Keine Menschenseele in Sicht. Das war auch nicht weiter überraschend, angesichts der Tatsache, dass es noch vor sechs Uhr morgens war und das Gebäude, das sie verbotenerweise betreten und fotografieren wollte, bereits seit etwa zwanzig Jahren leer stand. Sie ging das öde Stück Weg aus rissigem Asphalt entlang und wandte sich dann scharf nach rechts, um einen Graben zu durchqueren. Dann führte ihr Weg sie wieder nach oben durch ein Waldstück, das wie eine dichte Mauer aus Kiefern und Eichen die alte Nervenheilanstalt umgab.
Die Morgendämmerung begann soeben erst über den Horizont zu kriechen. Das Licht war unheimlich und ätherisch, ein Dunstschleier in rosa- und lavendelfarbenen Abstufungen hüllte die gotischen Bauwerke in einen unwirklichen Schein ein. Selbst in sanfte Pastelltöne getaucht, hatte dieser Ort etwas Bedrohliches an sich.
Dieser Kontrast war das, was sie heute Morgen hierhin geführt hatte. Diesen Ort bei Sonnenuntergang aufzunehmen, wäre wohl naheliegender gewesen, denn so wäre die schaurige Atmosphäre der leer stehenden Gebäude besser zum Ausdruck gekommen, aber es war die Gegenüberstellung des warmen Lichtes der Morgendämmerung und des kalten, unheilvollen Objektes, das Gabrielles Vorstellungskraft anregte. Sie blieb stehen und nahm die Kamera aus der Tasche, die über ihrer Schulter hing. Sie machte ein halbes Dutzend Aufnahmen, steckte den Verschluss wieder auf das Objektiv und setzte ihre Wanderung in Richtung der unheimlichen Gebäude fort.
Ein hoher Sicherheitsdrahtzaun ragte drohend vor ihr auf und schützte das Grundstück vor dem Forschungsdrang neugieriger Leute wie sie. Aber Gabrielle kannte seine verborgene Schwachstelle. Sie hatte sie entdeckt, als sie zum ersten Mal hierhergekommen war, um Außenaufnahmen zu machen. Jetzt eilte sie an dem Zaun entlang, bis sie die südwestliche Ecke erreicht hatte, und ging dann in die Hocke. Hier hatte jemand heimlich den Maschendraht mit einem Drahtschneider durchtrennt und so eine Lücke geschaffen, die gerade groß genug war, dass sich ein Halbwüchsiger hindurchzwängen konnte – oder eine entschlossene Fotografin, die Schilder mit der Aufschrift Zutritt verboten und Zutritt nur für Befugte eher als freundliche Empfehlung betrachtete denn als einzuhaltende Gesetze.
Gabrielle drückte den zerschnittenen Draht nach oben, schob ihre Ausrüstung hindurch und zwängte sich dann, ähnlich wie eine Spinne, auf dem Bauch durch die niedrige Öffnung. Unbehagen durchströmte sie, als sie auf der anderen Seite des Zauns wieder aufstand. Sie war an diese Art von heimlichen, einsamen Erkundungsgängen gewöhnt. Oft hing ihr künstlerisches Schaffen von ihrem Mut ab, trostlose Orte ausfindig zu machen, die man durchaus auch als gefährlich betrachten konnte. Diese gruselige Nervenheilanstalt konnte man getrost als Letzteres bezeichnen, dachte sie, als ihr Blick zu dem Graffiti neben einer Außentür wandelte: ScHLECHtE SCHWINgUNgEN.
„Das kannst du laut sagen“, murmelte sie vor sich hin. Als sie den Dreck und die Kiefernnadeln von ihrer Kleidung klopfte, wanderte ihre Hand automatisch zu der vorderen Tasche ihrer Jeans, um zu überprüfen, ob ihr Handy da war. Natürlich war es das nicht, da es noch immer im Besitz von Detective Thorne war. Noch ein weiterer Grund, sauer auf ihn zu sein, weil er sie gestern Abend versetzt
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