Geliebte der Nacht
Weise verlassen sollte, wie sie hereingekommen war, oder ob sie nicht auch einen anderen Ausgang finden konnte, irgendwo im Erdgeschoss des Hauptgebäudes. Der Gedanke daran, sich wieder in den dunklen Keller zu begeben, war nicht gerade reizvoll. Sie machte sich mit den Gedanken an ihre Mutter selbst verrückt, und je länger sie in der alten Nervenheilanstalt blieb, desto unbehaglicher fühlte sie sich. Als sie die Tür zum Treppenhaus geöffnet hatte, fiel in einigen der leeren Räume und am Ende des angrenzenden Ganges schwaches Licht durch die Fenster, was ihr gleich ein besseres Gefühl gab.
Offenbar hatte es der „Schlechte Schwingungen“-Graffitikünstler von draußen ebenfalls bis hierher geschafft. Auf jede der vier Wände waren mit tiefschwarzer Farbe seltsame verschnörkelte Symbole gemalt. Vermutlich handelte es sich dabei um Bandensignaturen oder die stilisierte Unterschrift von Jugendlichen, die vor ihr hier gewesen waren. Eine weggeworfene Sprühdose lag in der Ecke, zusammen mit einem Abfallhaufen aus Zigarettenstummeln, zerbrochenen Bierflaschen und anderem Müll.
Gabrielle nahm ihren Fotoapparat heraus und suchte nach einem guten Winkel für die Aufnahme, die sie im Sinn hatte. Das Licht war nicht gerade toll, aber mit einem anderen Objektiv konnte das Motiv was hergeben. Sie kramte in ihrer Tasche nach ihren Objektivkästchen. Plötzlich erstarrte sie, als sie von fern ein surrendes Geräusch hörte, das von irgendwo unter ihren Füßen stammte. Es war nur schwach, aber es klang merkwürdigerweise nach einem Fahrstuhl. Gabrielle stopfte ihre Ausrüstung in ihre Tasche zurück und horchte auf die vagen Geräusche um sie herum. Eiskalt überfiel sie eine düstere Vorahnung.
Sie war hier nicht allein.
Und jetzt, als sie darüber nachdachte, spürte sie auch einen Blick, der auf ihr ruhte. Er kam von einer Stelle ganz in ihrer Nähe, dessen wurde sie sich mit einem unangenehmen Prickeln auf ihrer Haut bewusst. Die feinen Härchen auf ihrem Nacken richteten sich auf, und auf ihren Armen bildete sich eine Gänsehaut. Langsam drehte sie den Kopf und blickte sich um. Und da sah sie es – eine kleine Videokamera einer internen Überwachungsanlage, die in der im Schatten liegenden oberen Ecke des Flurs angebracht worden war und die Tür zum Treppenhaus überwachte, durch die sie nur wenige Minuten zuvor gekommen war.
Vielleicht funktionierte die Kamera nicht, möglicherweise war sie nur ein Überbleibsel aus den Tagen, als die Nervenheilanstalt noch in Betrieb gewesen war. Das wäre zu schön gewesen. Es war nur leider so, dass die Kamera gut gewartet und eindeutig auf dem neuesten Stand der Technik war. Probehalber machte Gabrielle einen langen Schritt darauf zu, sodass sie fast unter dem Gerät stand. Lautlos neigte sich die Sockelhalterung der Kamera, und das Objektiv richtete sich aus, bis es Gabrielle ins Gesicht starrte.
Scheiße , sagte sie lautlos in dieses schwarze, starre Auge. Erwischt.
Aus den Tiefen des leeren Gebäudes hörte sie das metallische Quietschen und Krachen einer schweren Tür. Offensichtlich war die verlassene Nervenheilanstalt doch nicht ganz so verlassen. Zumindest gab es hier Sicherheitspersonal, und die Bostoner Polizei könnte durchaus Nachhilfeunterricht von diesen Leuten gebrauchen, was die Anrückzeit betraf.
Eilige Schritte erklangen, als derjenige, der an diesem Ort Wache hielt, wer auch immer es sein mochte, auf sie zukam. Gabrielle kehrte um und lief ins Treppenhaus zurück. Sie sprintete in wilder Flucht die Stufen hinunter, ihre Ausrüstung schlug ihr gegen die Hüfte. Während sie die Treppe hinunterlief, wurde das Licht immer schwächer. Sie umklammerte die Taschenlampe in ihrer Hand, aber sie wollte sie äußerst ungern benutzen, da sie Angst hatte, dem Sicherheitspersonal ihren Aufenthaltsort zu verraten. Endlich hatte sie die letzte Treppenstufe erreicht und drückte die Metalltür, die in den dunklen Korridor des unteren Stocks führte, auf.
Da hörte sie, wie die überwachte Tür mit einem Knall aufgestoßen wurde, als ihr Verfolger hinter ihr die Treppe herunterdonnerte. Er lief schnell und kam ihr immer näher.
Endlich erreichte sie die Tür zum Versorgungsbereich am Ende des Flurs. Sie warf sich gegen den kalten Stahl, durchquerte die Türöffnung und rannte in den feuchten und kühlen Keller, auf das kleine Fenster zu, das nach außen geöffnet war. Ein Schwall frischer Luft gab ihr Kraft, als sie ihre Hände auf das Fenstersims stemmte und
Weitere Kostenlose Bücher