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Geliebte der Nacht

Geliebte der Nacht

Titel: Geliebte der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lara Adrian
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Aufnahmen. Dann ging sie weiter, an weiteren Untersuchungs- und Behandlungsräumen vorbei. Vermutlich war dies hier also der medizinische Flügel des Gebäudes gewesen. Sie kam zu einem Treppenhaus und stieg zwei Treppen hoch, froh, sich in dem Hauptturm wiederzufinden, wo große Fenster das sanfte Morgenlicht hereinließen.
    Mit dem Objektiv der Kamera überblickte sie große Rasenflächen und breite Innenhöfe, flankiert von den eleganten Backstein- und Kalksteingebäuden. Sie machte ein paar Bilder von der verblassten Pracht des Ortes, die die Architektur und das Spiel des Sonnenlichts mit den gespenstischen Schatten würdigten. Es war seltsam, aus dem Inneren eines Gebäudes zu blicken, das früher einmal so viele verwirrte Seelen beherbergt hatte. In der unheimlichen Stille konnte Gabrielle beinahe die Stimmen der Patientinnen und Patienten hören, Leute, die nicht in der Lage gewesen waren, den Ort so einfach zu verlassen, wie sie es jetzt konnte.
    Leute wie ihre leibliche Mutter, eine Frau, die Gabrielle niemals gekannt hatte. Sie hatte als Kind lediglich ein paar Dinge in halblaut geführten Gesprächen zwischen Sozialarbeitern und den Pflegefamilien aufgeschnappt, die sie schließlich, eine nach der anderen, wieder in die staatliche Fürsorge zurückgeschickt hatten, so wie ein Haustier, das mehr Arbeit verursachte, als es wert war. Sie hatte den Überblick über die einzelnen Familien verloren, zu denen sie geschickt worden war. Die Klagen, die man über sie äußerte, wenn sie zurückgebracht wurde, waren immer die gleichen: Sie sei rastlos und introvertiert, ohne jedes Vertrauen, sozial gestört, mit selbstzerstörerischen Neigungen. Sie hatte die gleichen Bezeichnungen über ihre Mutter gehört, nur dass dieser noch zusätzlich Wahnvorstellungen zugeschrieben wurden.
    Als die Maxwells in ihr Leben traten, hatte Gabrielle neunzig Tage in einem Heim unter der Aufsicht einer staatlich geprüften Psychologin verbracht. Sie hatte absolut nicht erwartet und noch viel weniger gehofft, dass sie in einer neuen Pflegefamilie tatsächlich auf Dauer bleiben könnte. Eigentlich hatte sie den Zeitpunkt, an dem sie das noch belastet hatte, längst hinter sich gelassen. Aber ihre neuen Erziehungsberechtigten waren geduldig und freundlich gewesen. Da sie gedacht hatten, es könne ihr möglicherweise dabei helfen, mit ihrer verwirrten Gefühlswelt zurechtzukommen, hatten sie Gabrielle darin unterstützt, einige Gerichtsdokumente zu erlangen, die ihre Mutter betrafen.
    Sie war eine Unbekannte im Teenageralter gewesen, wahrscheinlich obdachlos, ohne Ausweis und anscheinend ohne Familie oder Freunde, abgesehen von dem Säugling, den sie in einer Augustnacht in einem Mülleimer in der Innenstadt liegen gelassen hatte, schreiend und erschöpft. Gabrielles Mutter war brutal misshandelt worden und blutete aus tiefen Wunden am Hals; hysterisch und voller Panik hatte sie an den Verletzungen gekratzt und dadurch die Situation noch verschlimmert. Während sie in der Notaufnahme behandelt wurde, war sie in einen Zustand der Katatonie verfallen und hatte sich nie mehr erholt.
    Statt sie für das Verbrechen, ihren Säugling ausgesetzt zu haben, strafrechtlich zu verfolgen, hatten die Gerichte die Frau für unzurechnungsfähig erklärt und sie in eine Einrichtung geschickt, die wahrscheinlich nicht viel anders war als diese hier. Weniger als einen Monat nach ihrer Einweisung hatte sie sich selbst mit einem zusammengeknoteten Betttuch erhängt und zahllose Fragen hinterlassen, auf die es niemals Antworten geben würde.
    Gabrielle versuchte die Last dieser alten Wunden abzuschütteln, aber als sie dort stand und durch die frühen Glasfenster blickte, kam die Erinnerung an die Vergangenheit wieder hoch. Sie wollte nicht über ihre Mutter nachdenken und auch nicht über das Unglück ihrer Herkunft und die düsteren, einsamen Jahre, die danach gekommen waren. Sie musste sich auf ihre Arbeit konzentrieren, denn sie war es, die Gabrielle das alles durchstehen ließ. Sie war die einzige Konstante in ihrem Leben, im Prinzip alles, was sie auf dieser Welt überhaupt besaß.
    Und das reichte auch aus.
    Jedenfalls reichte es meistens aus.
    „Jetzt mach ein paar Aufnahmen, und verschwinde dann von hier, verdammt“, schalt sie sich selbst. Sie hob den Fotoapparat und machte noch ein paar Fotos durch die dünnen Gitterstäbe hindurch, die sich zwischen den doppelten Fensterscheiben befanden.
    Dann überlegte sie, ob sie das Gelände auf die gleiche

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