Geliebte des Blitzes
Ahnung, warum – wegen den Tattoos …« Creed trank sein Glas leer und füllte es noch einmal.
Nur mühsam widerstand Annika der Versuchung, die tätowierten Symbole auf seiner Wange zu streicheln, so wie in manchen Nächten, wenn er schlief und sie sich ihm ein bisschen näher fühlen wollte. Mit den Tattoos war er geboren worden, das wusste sie. Doch er hatte ihr niemals erklärt, wie sie entstanden waren, und sie hatte auch nicht danach gefragt.
»Meine Eltern wollten die Höhle erforschen, weil die Hexe Bell angeblich darin spukte. Immer wieder hatten Leute behauptet, dort würde man hören, wie jemand wirres Zeug stammelt, singt und stöhnt. Und an jenem Morgen hatten sie dort ein Baby schreien hören. Mom
und Dad gingen in die Höhle, denn sonst wagte sich niemand hinein. Und da lag ich.«
»Dann haben sie dich einfach behalten?«
»Ja.« Er zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich hatten sie jahrelang versucht, Kinder zu bekommen, und das klappte nicht, und so sagten sie, ich sei ein Geschenk. «
Langsam und nachdenklich kaute sie vor sich hin. Also hatten seine Eltern ein fremdes Kind zu sich genommen und aufgezogen? Wie konnten sie ihn geliebt haben? Im Grunde gehörte er nicht zu ihnen. Annikas CIA-Eltern hatten sie nicht geliebt, nicht einmal ein kleines bisschen. Und sie hatte immer vermutet, es müsste daran liegen, dass sie nicht ihr leibliches Kind war. Nun – auch wegen des anspruchsvollen Jobs der beiden. Ein emotionales Defizit war der Preis, den alle Agenten für ihren Erfolg zahlten.
Mit dreizehn war Annika in ein strenges, militärisch geprägtes CIA-Ausbildungslager gebracht worden. Da hatten ihre »Eltern« mit keiner Wimper gezuckt, offensichtlich froh, weil das Täuschungsmanöver mit falscher Ehe und falscher Familie endlich vorbei war. Schon lange zuvor hatte sie geahnt, Patricia und Joseph White könnten nicht ihre richtigen Eltern sein, und an jenem Tag schwanden die letzten Zweifel. Drei Jahre später erfuhr sie die ganze Wahrheit, was nicht ohne Blutvergie-ßen abging.
Patricia und Joseph blieben dabei nicht verschont.
Und Martha und Dave hatten ein seltsames tätowiertes Kind in einer Höhle gefunden und es geliebt. Warum hatten Patricia und Joseph nicht einmal ein
bisschen Zuneigung für Annika aufgebracht? Und warum störte sie das plötzlich, obwohl es ihr immer egal gewesen war?
»Wann hast du deine Verbindung mit Kat entdeckt, Creed?«
»Sofort, glaube ich. Dad und Mom waren beide Medien. Also wussten sie von Anfang an, dass Kat mich beschützt. «
Annika kannte den Unterschied zwischen einem normalen Medium, das mit Geistern kommunizierte, und der Version Creeds, der die Vermittlung des Geistes Kat brauchte.
»Also bist du aufgewachsen – mit Tattoos und Geistern? Hast du eine richtige Schule besucht?« Plötzlich wollte sie alles über den Mann wissen, der ihre Welt in Ordnung brachte.
Creed leerte sein Weinglas. »Meistens wurde ich daheim unterrichtet.«
»Meistens?«
»Nun, manchmal bildete ich mir ein, ich müsste in eine Schule gehen und andere Kids treffen. Das haben meine Eltern dann immer erlaubt, aber es war nie für länger.«
»Wegen der Tattoos?«
»Ja. Die Lehrer, die Kids – die verstanden das nicht. Dass ich mit diesen Tätowierungen geboren war, glaubte niemand. Ein Lehrer ging sogar so weit, meine Eltern wegen Kindesmisshandlung anzuzeigen, denn er glaubte, sie hätten mich zu den Tätowierungen gezwungen.«
Annika griff unter den Tisch und drückte sein Knie. In ihrer frühen Jugend hatte sie sich nach dem Kontakt
mit anderen Kindern gesehnt. Und so verstand sie in gewisser Weise, was er durchgemacht hatte. »Tut mir so leid, Baby.«
»Verglichen mit alldem, was du aushalten musstest, war’s eher harmlos.«
»Vielleicht. Aber wenigstens hat sich niemand über mich lustig gemacht.« Zum Glück war ihr dieser Kummer erspart geblieben. Und jeder, der sie auf andere Weise verletzt hatte – egal welche –, hatte stets ganz schön büßen müssen.
»Für dich ist es viel schlimmer gewesen. Du warst erst zwei, als der CIA dich deiner Mutter wegnahm und Leuten übergab, die dich wie einen vielversprechenden Pitbull großzogen, nicht wie eine Tochter.«
Bei ACRO wusste jeder, dass sie zu einer Waffe des CIA ausgebildet worden war. Doch die Einzelheiten kannten nur Dev – und jetzt Creed. Letzte Nacht hatte sie ihm anvertraut, bei ihrem ersten Mord sei sie zwölf Jahre alt gewesen. Und bevor sie zu ACRO gekommen sei, habe sie nur eine einzige
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