Geliebte Feindin
so?
»Selbstverständlich verabscheue ich diesen Mann. Er ist ein skrupelloser Halunke, Sir, und auf seinen Kopf ist eine enorme Prämie ausgesetzt. Offensichtlich habt Ihr eine ausgesprochen romantische Ader, wenn Ihr all die törichten Geschichten über Pagans gute Taten glaubt.«
Ein durchdringender Pfiff unterbrach Saras Zurechtweisung. »Was bedeutet dieser Ton?« fragte sie. »Ich habe ihn schon heute morgen gehört.«
»Der Bootsmann pfeift, wenn die Wache wechselt«, erklärte er. »Ihr werdet diesen Pfiff alle vier Stunden hören – Tag und Nacht.«
»Mister Jimbo?« rief sie, als er sich zum Gehen umdrehte.
»Lady Sara, Ihr solltet mich nicht mit Mister anreden«, brummte er, »Jimbo genügt.«
»Dann müßt Ihr mich Sara nennen – ohne Lady«, erwiderte sie. »Wir sind jetzt Freunde, oder nicht? Darf ich Euch eine letzte Frage stellen?«
Er sah sie über seine Schulter an. »Ja.«
»Ich glaube, herausgefunden zu haben, daß Ihr in den Diensten meines Mannes steht, ist das richtig?«
»Ja.«
»Habt Ihr eine Ahnung, wo sich mein Mann aufhalten könnte?«
»Vorhin war er am Heck vorm Spint«, murmelte er.
Sie sah ihn empört an und schüttelte den Kopf, und er wiederholte: »Er war am Spint.«
»Jimbo, Ihr habt bestimmt recht, er spinnt«, begann sie und machte eine Pause, um ihren Sonnenschirm aufzuheben und den riesigen Mann zu umrunden. »Aber Ihr seid ausgesprochen unloyal, wenn Ihr diese Tatsache laut aussprecht. Ich bin Nathans Frau, und ich kann es nicht dulden, daß Ihr abfällige Bemerkungen über ihn fallenlaßt. Ich bitte Euch, in Zukunft mehr Respekt zu zeigen.«
Matthew kam gerade rechtzeitig die Treppe herunter, um zu verstehen, daß Sara seinem Freund eine Lektion über respektvolles Verhalten erteilte. Lady Sara lächelte ihn an, als sie an ihm vorbeiging.
»Worum ging es eigentlich?« fragte Matthew seinen Freund. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört von …«
Jimbos Blick brachte ihn zum Schweigen. »Du wirst es im Leben nicht glauben, aber ich habe gerade versprochen, nie mehr zu sagen, daß Nathan spinnt.«
Matthew schüttelte den Kopf. »Sie ist reichlich merkwürdig, findest du nicht, Jimbo? Es ist mir ein Rätsel, daß ein so unbedarftes Mädchen in einer der bösartigsten Familien Englands aufwachsen konnte.«
»Sara ist ganz anders als Jade«, meinte Jimbo. Er sprach von Nathans jüngerer Schwester. »Während all der Reisen, die sie mit uns unternommen hat, habe ich sie nicht einmal weinen sehen.«
»Nein, sie hat nie geweint«, bestätigte Matthew mit einem gewissen Stolz. »Aber Sara … ich habe noch nie eine so tobsüchtige Frau erlebt wie sie …«
»Sie hat gebrüllt wie am Spieß«, bekräftigte Jimbo. »Jade hat nie gebrüllt.«
»Nie.« Matthew nickte heftig.
Plötzlich überzog ein breites Grinsen Jimbos Gesicht. »Die beiden sind grundverschieden, aber eines haben sie gemeinsam.«
»Und was sollte das sein?«
»Sie sind beide verdammt hübsch.«
Matthew nickte wieder.
Ein gellender Schrei ließ sie zusammenzucken, und beide wußten, daß nur Sara solche Töne von sich geben konnte.
»Sie ist verflucht anstrengend«, knurrte Matthew.
»Und verflucht laut«, ergänzte Jimbo. »Was sie jetzt wohl wieder in Panik versetzt hat?«
Merkwürdigerweise beeilten sich beide Männer, an Deck zu kommen, um nachzusehen, was geschehen sein könnte.
Sara hatte Nathan gefunden. Er stand mit entblößtem Oberkörper am Ruder und hatte ihr den Rücken zugewandt.
Sie sah die unzähligen Narben auf seinem Rücken und erschrak so sehr, daß sie unwillkürlich einen Schrei ausstieß.
»Wer hat dir das angetan?«
Nathan wirbelte kampfbereit herum. Er brauchte nur eine Sekunde, um festzustellen, daß keine Menschenseele, die Sara etwas antun könnte, in der Nähe war.
»Was zum Teufel, ist los?« brüllte er, während er versuchte, seinen Herzschlag zu beruhigen. »Ich dachte schon, jemand hätte …« Er unterbrach sich, um tief Luft zu holen und fragte: »Hast du dir weh getan?«
Sie schüttelte stumm den Kopf.
»Schrei niemals mehr in so einer Weise«, bat er sie mit wesentlich weicherer Stimme. »Wenn du meine Aufmerksamkeit erregen willst, dann sag einfach meinen Namen.«
Saras Sonnenschirm fiel aufs Deck, als sie auf ihn zuging. Sie war noch so benommen von dem, was sie gesehen hatte, daß sie gar nicht bemerkte, daß sie ihn verloren hatte. Sie blieb so dicht vor Nathan stehen, daß er die Tränen in ihren Augen glitzern sah.
»Was ist geschehen?«
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