Geliebte Gefangene
eisig heller Mond über den Dächern und den Kaminen auf, um seinen Platz am Himmel einzunehmen. Durch die Straßen und Alleen fuhr ein kalter Wind und wehte welke Blätter und altes Zeitungspapier gegen die Beine der wenigen, bedauernswerten Fußgänger. Die meisten seiner Standesgenossen wären ganz und gar glücklich gewesen, an einem solchen Abend auf jedes Amüsement zu verzichten, zumal die Saison ohnehin noch nicht richtig angefangen hatte, und stattdessen den Abend behaglich, warm und heimelig in ihrem eigenen eleganten Salon vor dem Kamin zu verbringen, mit Brandy und heißem chinesischem Tee, um auch noch den letzten Rest Kälte zu vertreiben.
Doch der Earl of Atherwall hatte sich noch nie wie die übrigen Angehörigen seiner Klasse verhalten, und auch der heutige Abend würde da keine Ausnahme machen.
„Sieh dir mal dieses dralle kleine Weibsbild dort unten auf dem Pflaster an“, sagte sein Freund Lord Walter Ranford, der neben ihm am Fenster stand. „Ich würde sagen, die singt für ihr Abendessen.“
Harry senkte den Blick vom aufgehenden Mond auf die Straße, wo eine junge Straßensängerin trotz Wind und Kälte tapfer ihrem Gewerbe nachging. Ihr rundes Gesicht war von der Kälte rosig angehaucht, und sie war in so viele Lagen wollener Tücher, Schals und Röcke gehüllt, dass sie einem der Spatzen im Park ähnelte, die sich aufplusterten, um warm zu bleiben. Der Korb zu ihren Füßen enthielt nur einige Münzen als Lohn für ihre Lieder, und die wenigen Passanten hatten es zu eilig, ihr Ziel zu erreichen, als dass sie stehen geblieben wären, um dem Mädchen zu lauschen. Doch sie sang unentwegt, mit in den Nacken gelegtem Kopf, die in Fäustlinge gehüllten Hände vor dem Leib verschränkt.
„Ich wette eine Guinea, dass ihre Stimme süßer klingt als die von dieser fetten Kuh, die wir gestern Abend in der Oper gehört haben“, fuhr Walter fort und begeisterte sich für das Mädchen mit dem gleichen romantischen Eifer, den er den meisten Frauen gegenüber an den Tag legte. „Mit einem so süßen Gesicht, wie sollte sie da nicht wie ein Engel singen?“
„Nur wenn die Wolken im Himmel aus Eis gesponnen sind“, meinte Harry gelangweilt. Das Mädchen war recht hübsch, mit seiner Stupsnase und den roten Locken, auch wenn das entbehrungsreiche Leben auf der Straße bereits die ersten harten Linien in ihr Gesicht geschrieben hatte. Ganz gleich, wie sehr Walter sie auch verklären mochte, Harry war zu sehr Realist, um nicht den Verdacht zu hegen, dass sie etwas später am Abend, in einer anderen Straße, einem anderen Gewerbe nachgehen würde, um die geringen Einkünfte auszugleichen, die sie mit ihrer Singerei erzielt hatte. „Falls ich deine Wette annehme, wie sollen wir dann ihre Stimme prüfen? Was schlägst du vor?“
„Ich könnte sie hier heraufholen“, bot Walter an. Sein Enthusiasmus legte seinen gesunden Menschenverstand lahm. „Sie könnte für uns singen, während wir dinieren. So könnten wir uns ein Urteil bilden.“
„Was? Und riskieren, uns das Essen zu verderben, wenn ihr Lied nicht so schön ertönt, wie du es dir wünschst?“, widersprach Harry entgeistert. „Nein, ich denke, es ist besser, wir fällen unser Urteil von hier oben.“
„Du nimmst meine Wette an?“, fragte Walter überrascht. Harry war selten mit seinen Vorschlägen einverstanden, besonders was Frauen betraf.
„Oh, warum nicht“, meinte Harry nachsichtig. Walter konnte ein ziemlicher Narr sein, aber er war wenigstens ein gutherziger. Und außerdem, was sonst sollte er selbst mit der folgenden Viertelstunde anfangen? „Lass uns das Talent deines hübschen Engels prüfen.“
Ohne Walters Antwort abzuwarten, schob er den Riegel zurück und stieß das Fenster auf. Ein ekelhaft kalter Windstoß ließ die Vorhänge ins Zimmer wehen. Die Ellenbogen aufs Fensterbrett gestützt und die entrüsteten Proteste der anderen Herren im Raum ignorierend, lehnte Harry sich aus dem Fenster. Das dunkle Haar wehte ihm in die Stirn. Die Kälte in seinem Gesicht fühlte sich gut an. Sie war scharf und auf eine Art wirklich, wie es in diesen Tagen zu wenige Dinge für ihn waren.
„Sei gegrüßt, mein Schatz“, rief er. „Mein Freund hier wettet, dass du besser singen kannst als die berühmte Signora di Bellagranda.“
Die Kleine wandte ihnen das Gesicht zu. Sie öffnete den Mund zu einem Lächeln, weit genug, dass man eine Lücke zwischen ihren Zähnen sehen konnte. Trotz ihrer Jugend hatte sie bereits einen Zahn
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