Geliebte Gefangene
ein, die eine sichere Gesellschaft für arme Witwen abgab!
Doch was für ein anderes Bild sollte Mrs. Lowry sich denn auch von ihr machen? Sie, Sophie, war dunkel und solide in ein graues Wollkleid mit kurzem, dunkelblauem Jäckchen gekleidet, das bis unters Kinn zugeknöpft war. Und unter der schmucklosen Schute mit dem breiten geschwungenen Rand war ihr Haar so straff zurückgekämmt, dass man keine Strähne davon sehen konnte. Sie sah tatsächlich wie eine alte Jungfer aus, weil die Umstände sie zu einer solchen gemacht hatten. Und weil sie schon vor langer Zeit alle unerfüllbaren, aussichtslosen Träume von einem Ehemann und eigenen Kindern aufgegeben hatte.
Aber sie war noch nicht zu alt, um sich nicht daran zu erinnern, dass sie einmal als Schönheit gegolten hatte, damals, als sich die Herren auf der Straße nach ihr umdrehten und ihr nachsahen, wenn sie vorbeiging. Damals, als besonders ein junger Mann sie das lieblichste Mädchen im ganzen Königreich genannt und ihr sein Herz geschenkt hatte, um es zu beweisen …
„Es tut mir leid, Mrs. Lowry, aber ich kann nicht bleiben“, sagte Sophie mit bittersüßem Lächeln, das mehr ihren Erinnerungen galt als der Frau vor ihr. „Ich werde schnellstmöglich erwartet.“
Mrs. Lowry schniefte.„Wenn Sie denn überhaupt dort ankommen“, meinte sie düster. „Auf der Straße geschehen Dinge, die keine junge Frau, wie Sie eine sind, erleiden sollte.“
„Oh, ich kann mich durchaus wehren“, antwortete Sophie zuversichtlich, „und ich bin nicht leicht zu erschrecken, weder von Kobolden noch von Geistern, die sich im Dunkeln verbergen. Ich bin es gewohnt, für mich selbst zu sorgen. Und schließlich habe ich es ohne ein Missgeschick von Lincolnshire bis hierher geschafft und nehme also an, dass ich auch Winchester erreichen werden.“
Aber Miss Lowry schüttelte den Kopf. „Ich rede nicht von Geistern, Miss. Es sind Gefahren aus Fleisch und Blut. Ich kann nicht für Lincolnshire sprechen, aber so nahe bei London und Portsmouth liegen die Dinge etwas anders. Wegen des französischen Kriegs sind es unsichere Zeiten. Auf den Straßen treibt sich allerhand Diebsgesindel herum, Deserteure der Armee, Männer, die von Schiffen geflüchtet sind und was weiß Gott noch sonst für welche. Und wenn man den traurigen Zustand Ihrer Kutsche in Betracht zieht, so würde ich …“
„ Danke , Mrs. Lowry“, sagte Sophie so bestimmt wie möglich, entschlossen, sich all das nicht länger anzuhören. „Ich weiß Ihr Interesse an meinem Wohlergehen zu würdigen, aber ich ändere meine Pläne nicht.“
Natürlich würde sie ihre Pläne nicht ändern, ganz gleich wie sehr Mrs. Lowry sie auch dazu drängte. Wie konnte sie auch? Eine Gouvernante auf dem Weg zu einer neuen Anstellung hatte nichts zu bestimmen. Im günstigsten Falle besaß sie einen etwas höheren Rang als ein besseres Hausmädchen. Es wurde von ihr erwartet, dass sie sich, ohne lange zu fragen, den Wünschen ihrer Arbeitgeber fügte. Wenn Sir William, ihr neuer Arbeitgeber, wünschte, dass sie so bald wie möglich ihre neue Verantwortung übernahm, dann würde Sophie das tun. Um sicherzugehen, dass sie heil ankam, hatte er sogar darauf bestanden, ihr eine Mietdroschke zu schicken, die sie von Iron Hill, ihrer letzten Arbeitsstätte in Lincolnshire, abgeholt hatte.
Sophie war ihm für seine Fürsorglichkeit dankbar gewesen, bis sie die Kutsche dann gesehen hatte: Ein altertümliches, langsames Exemplar auf wackeligen Rädern, das von einem großen, mürrischen Mann gelenkt wurde, dessen Namen sie immer noch nicht in Erfahrung gebracht hatte. Die abgenutzte Federung, die geflickten Polsterkissen, die nach Katze rochen, und die zweitklassigen Pferde, die an jeder Station entlang der Straße geordert wurden, waren ein deutlicher Hinweis darauf, welchen Stellenwert Sir William der neuen Gouvernante seiner Söhne beimaß. Als heute früh an einem großen Felsbrocken eine Speiche des linken Rades brach, war Sophie daher zwar erschrocken, aber nicht überrascht gewesen.
Doch mit alledem würde sie fertig werden und wie immer das Beste aus ihrem Los machen. Sie würde sich weder von Sir William und seiner wackeligen Kutsche noch von räuberischen Schreckgespenstern einschüchtern lassen. Sie würde sich den Gegebenheiten anpassen und unbeirrt weitermachen, so wie sie es schon immer getan hatte. Das war eine ihrer größten Stärken, auf die sie stolz sein konnte. In all ihren Zeugnissen wurde sie dafür gelobt:
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