Geliebte Gefangene
vor der Brust, um den stärksten Kraftausdruck noch zu unterstreichen, den sie je in den Mund genommen hatte. „Mein Vater war ein Geistlicher der Kirche von England. Er hätte Ihnen gesagt, dass der einzige Ort, wo Feen, Kobolde und anderer heidnischer Unsinn existieren, ein leerer Kopf ist. Und ganz besonders solch ein Kopf, der durch einen Bauch voll Gin noch leerer geworden ist. Werden Sie mich jetzt fahren, wofür man Sie schließlich bezahlt hat, oder muss ich da hinaufklettern und selbst die Zügel in die Hand nehmen?“
Vor sich hin fluchend – sicher waren es Flüche, die Sophie und ihre Verwandtschaft betrafen – nahm der Kutscher schließlich auf seinem Sitz und Sophie im Innern der Kutsche Platz, und langsam rollte der Wagen aus dem Hof und auf die Landstraße hinaus. Wieder einmal machte Sophie es sich in den ausgesessenen Polstern so bequem wie möglich. Ihr malträtierter Körper protestierte, als sie erneut die gleiche unangenehme Stellung einnehmen musste wie in den Tagen zuvor.
Entschieden zog sie sich die Reisedecke über die Beine, um sich vor der abendlichen Kühle zu schützen, und steckte dann die Hände unter die Arme. Wenn sie nicht so sehr damit beschäftigt gewesen wäre, sich mit dem Kutscher über Feen und Mondlicht zu streiten, hätte sie in dem Gasthof eine Kanne heißen Tee für die Reise bestellt. Vielleicht auch ein leichtes Abendessen, um den letzten Teil ihrer Reise besser zu überstehen.
Nun gut, sie musste es jetzt ausbaden und nicht der Kutscher, und es würde ihr ganz recht geschehen, wenn ihnen in dieser Nacht zufällig ein oder zwei Feen über den Weg liefen. Seufzend zog sie die Füße auf den Sitz, bedeckte sie mit ihrem langen Rock und sah zum Mond auf, der immer weiter am Himmel emporstieg. Wie hatte sich seit diesem längst vergangenen April ihr Leben verändert? Und wie sehr hatte sie sich verändert, während Harry … Ach, Harry würde sich nie ändern, weil er es gar nicht musste.
Sie konnte sich an keine Zeit erinnern, in der Harry nicht für sie da gewesen wäre, sei es, dass sie Frösche in den Binsen nahe dem Weiher gefangen hatten oder auf der Jagd nach den süßesten Früchten im Obstgarten des Herrschaftshauses auf die Apfelbäume geklettert waren. Er war ihr bester Freund gewesen. Und als sie sich dann schließlich in dem Sommer, als sie sechzehn wurde, ungeschickt und voller Seligkeit küssten, da schien dies nur ein weiteres wunderbares Abenteuer zu sein, das sie mit Harry teilte.
Doch ihr Vater, dessen Gesundheit anfing nachzulassen, hatte die Gefahr eines solchen Abenteuers erkannt. Bekümmert hatte er sich wegen seiner Unachtsamkeit Vorwürfe gemacht und weil er zugelassen hatte, dass Sophie so vertraut mit der Familie im Herrschaftshaus geworden war. Seine Tochter selbst war zu jung, um zu verstehen, dass Harry nach dem Tod seines Vaters der fünfte Earl of Atherwall sein würde und Sophie nur die mittellose Tochter eines Landgeistlichen, ohne eine angemessene Mitgift für die Zukunft. Besonders nicht für eine Zukunft mit einem Earl. Früher oder später – wohl eher früher – würde Harry unweigerlich Sophie und ein Kind, das sie vielleicht empfangen hätte, verlassen und ein Mädchen seiner eigenen gesellschaftlichen Klasse zur Frau nehmen.
Die bittere, herzzerreißende Erkenntnis tat weh und war schlimmer als alles, was Sophie sich bis dahin hatte vorstellen können. Nie würde Harry – der Liebe, der Freundschaft, ihr gegenüber – so treulos sein, hatte sie sich eingeredet. Und unter Tränen hatte sie sich geweigert, solch einer schrecklichen Voraussage zu glauben. Doch schon damals war sie eine praktische und vernünftige Person gewesen, nicht wahr? Nachdem ihre Tränen getrocknet waren, hatte sie getan, was für jeden das Beste war. Am Ende hörte sie auf die Einwände ihres Vaters, und als Harry dann zwei Jahre lang den Kontinent bereiste, hatte sie eingesehen, dass eine Trennung unvermeidlich war.
Der Vater schrieb an ihrer Stelle an Harry und sandte jeden von Harrys Briefen ungeöffnet und ungelesen zurück. Um dann den Sorgen ihres Vaters um ihre Zukunft ein Ende zu bereiten, hatte Sophie ihre erste Stelle als Gouvernante angetreten. Sie zweifelte nicht daran, dass sie getan hatte, was richtig war, auch wenn das Schicksal sie nie und nimmer gerecht behandelt hatte.
Es war der jähe Ruck der plötzlich anhaltenden Kutsche, der sie weckte und sie vom Sitz rutschen ließ, sodass sie sich jetzt in der unrühmlichen Situation
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