Geliebte Gefangene
‚Für die liebe Miss Potts ist keine Herausforderung zu groß.‘
„Wie Sie wollen, Miss“, bemerkte Mrs. Lowry spitz und sammelte Sophies Becher ein, ohne ihn noch einmal zu füllen. „Riskieren Sie nur Ihr Leben, um den Launen Ihres Arbeitgebers zu gehorchen. Wenigstens haben Sie den Mond zur Begleitung, wenn Ihr gesunder Menschenverstand Sie schon verlassen hat.“
Was für ein angenehmer Begleiter dieser Mond sein wird, verglichen mit einer schlecht gelaunten Wirtin, dachte Sophie müde, als Mrs. Lowry in ihre Küche zurückstolzierte. An jedem beliebigen Tag würde Sophie den Mond vorziehen, ungelogen. Seufzend schob sie die Bank zurück und erhob sich. So gut sie konnte, strich sie ihre Röcke glatt. Nach dreitägiger Reise war ihre Kleidung zerknittert und zerknautscht und mit einer feinen Schicht Straßenstaub überzogen, der anscheinend auch noch so viel Bürsten nichts anhaben konnte.
Doch wenn ihr und der Kutsche weitere Unfälle erspart blieben, würde sie am nächsten Morgen ihren Bestimmungsort erreichen. Gestärkt durch dieses Wissen schnürte sie wieder die Bänder ihres Huts unter dem Kinn fest zusammen. Entschlossen ging sie zur Tür.
Und hielt den Atem an.
Der Mond, der über dem Stall des Gasthauses aufging, ähnelte eher einer Bühnendekoration aus Kerzenlicht und Silberfolie als einem realen nächtlichen Himmelsschauspiel. Rund und silberglänzend wie ein frisch aus der Münze kommender Spanischer Dollar, ließ dieser Mond selbst den Himmel als zu eng für sich erscheinen und verlangte von allen Dingen, die im herrlichen Glanz seines Lichtes badeten, ob sie nun groß oder klein waren, ungeteilte Aufmerksamkeit.
Nur einmal habe ich einen solchen Mond gesehen. Nur ein einziges Mal, in einer anderen Aprilnacht. Und das ist so lange her, dass es zu einem anderen Leben zu gehören scheint …
„Da sind Sie ja , Miss.“ Der Kutscher rückte sich den breitrandigen Hut zurecht. „Wollen Sie jetzt aufbrechen?“
Widerstrebend löste Sophie den Blick vom Mond und sah den Mann, der vor ihr stand, an. Für den Kutscher war das immerhin eine beachtliche Rede, die er da gehalten hatte, aber trotzdem blieben noch einige Fragen offen.
„Sie konnten also hier im Dorf einen anständigen Stellmacher finden?“, fragte sie eifrig. „Wurde das Rad zu Ihrer Zufriedenheit geflickt?“
„Es wird gehen“, sagte der Mann. „Gut genug.“
„Das klingt nicht gerade überzeugend“, erwiderte Sophie. „Ich habe jedenfalls keine Lust, mir wegen einer schlecht ausgeführten Reparatur mitten in der Nacht den Hals zu brechen.“
Er zuckte die Achseln, als wollte er zugeben, dass auch er von der Reparatur nicht überzeugt war, allerdings auch nichts anderes erwartet hatte.
„Kann ich das Rad einmal sehen?“ Mit wortkargen Burschen umzugehen, darin war sie sehr geübt. Sie konnte sie genauso gut zum Sprechen bringen, wie sie ihnen beibringen konnte, ohne zu klecksen mit feiner, gepflegter Handschrift zu schreiben. Und wenn der Kutscher auch viel älter war als ihre Schutzbefohlenen, vermutete sie doch, dass bei ihm die gleiche Methode zum Ziel führte. „Würden Sie mir bitte das reparierte Rad zeigen?“
„Ja, Miss.“ Er führte sie zu dem Gefährt im Hof. Im Geschirr wartete bereits ein schläfriges Pferd. „Hier ist es.“
Sophie beugte sich vor, um das Rad zu begutachten, auch wenn sie, über die neu eingesetzte Speiche hinaus, nicht wusste, was sie da eigentlich überprüfen wollte.
„Wir können auch bis zum Morgen bleiben, Miss“, bot der Kutscher an. „Falls Sie nicht fahren wollen.“
„Aber ich will.“ Sie richtete sich auf und wischte sich die Hände ab. „Wenn Sie mit dem Rad zufrieden sind, dann werden wir sofort aufbrechen.“
Sturköpfig und mit finsterem Blick schaute der Mann sie an. „Es ist nicht das Rad, Miss.“
Sophie seufzte, und ihre Ungeduld wuchs. „Was genau ist es dann?“
„Dieser Mond“, erklärte er und deutete wie ein alttestamentarischer Prophet mit feierlichem Ernst gen Himmel. „Bei einem Mond wie dem da passieren seltsame Dinge.“
Seltsame Dinge: War das alles gewesen, was sich zwischen ihr und Harry unter jenem Mond damals abgespielt hatte?
„So einen Mond gibt ’s auch in der Mittsommernacht“, fuhr der Mann fort. „Spielt keine Rolle, dass jetzt April ist. Die Feenkönigin und solche Wesen gehen jetzt um. Bestimmt. Wollen die Pferde erschrecken.“
„ Verflixt und zugenäht“, stellte Sophie trocken fest und verschränkte die Arme
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