Geliebte Gefangene
die Stirn. „Es gibt nichts zu bereden. Ich habe versprochen, kein falsches Spiel mit Euch zu treiben. Ihr könnt gehen.“
Wieder flackerte Hoffnung in Anne auf, aber diesmal blieb sie vorsichtiger. „Was genau meint Ihr?“, flüsterte sie.
Ungeduldig deutete Simon Richtung Tür. „Ich sagte, dass Ihr gehen könnt. Kehrt zurück nach Grafton. Ihr seid gekommen, um zu verhandeln, und ich habe Eure Konditionen nicht akzeptiert. Ich habe meine Meinung geändert. Ich werde Euch nicht gegen Henry austauschen. Es ist meiner Sache nicht dienlich. Also gibt es nichts weiter zu sagen.“
Anne verharrte einen Augenblick. Sie war verwundert über diesen plötzlichen Gesinnungswandel. Wenn Lord Greville sie jetzt gehen ließ, was würde dann aus Henry werden? Malvoisier hätte ihn noch immer als Geisel, und Simon hätte nichts mehr, mit dem er verhandeln könnte. „Aber was geschieht dann mit Eurem Bruder?“, fragte sie.
Simon lachte, aber es klang bitter. „Es ist ein gewagtes Spiel, Lady Anne“, antwortete er. „Ich riskiere das Leben meines Bru ders, um Grafton einzunehmen. Das Haus muss an die Parlamentarier fallen. Der Angriff ist unausweichlich. Jetzt über Geiseln zu verhandeln, würde die Sache nur unnötig in die Länge ziehen.“
Verwirrt schüttelte Anne den Kopf. „Aber wenn Malvoisier Henry tötet …“
Nur eine kleine Bewegung zeigte Simons Unbehagen. „Malvoisier wird zu dem Schluss kommen, dass eine lebende Geisel mehr wert ist als ein toter Mann. Er wird Henry am Leben halten wollen, um im Notfall mit ihm als Druckmittel seinen eigenen wertlosen Hals retten zu können.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung und wandte sich ab.
Doch Anne hatte das kurze Aufblitzen echten Schmerzes in seinen Augen gesehen und wusste, dass er nicht so kaltblütig war, wie es den Anschein hatte. Vielmehr hoffte er, dass seine Worte sich als wahr erweisen würden. „Ich glaube Euch nicht, dass Ihr die Sache so leicht nehmt“, stellte sie fest. „Ihr wisst, dass es eine verzweifelt kleine Chance ist, auf die Ihr setzt.“
„Ja, ich weiß es nur allzu gut!“, erwiderte Simon heftig. „Und wenn Henry deswegen stirbt, habe ich Jahre der Trauer vor mir, in denen ich meine Entscheidung bereuen kann.“
Anne blickte ihn ruhig an. Sie fühlte, dass er seine harten Worte bewusst einsetzte, um sie auf Abstand zu halten. Er wollte weder ihr Mitgefühl noch ihre Dankbarkeit. Er wollte nichts von ihr, was sie einander näherbringen oder ihm irgendwelche Emotionen abzwingen würde. „Ihr habt tiefe Gefühle für Euren Bruder“, sagte sie. „Genau wie für Euren Vater. Ich glaube, dass Ihr mich gehen lasst, weil Ihr nicht wollt, dass mein Vater allein und ohne Trost stirbt . Ihr respektiert ihn. Und Ihr wisst, was es bedeutet, der eigenen Familie entfremdet zu sein und alles zu verlieren, was einem wichtig ist.“
Simons dunkle Augen sandten tödliche Blitze in ihre Richtung, die sie erzittern ließen. „Genug!“, fuhr er sie unbeherrscht an und hatte seine Stimme im nächsten Augenblick schon wieder unter Kontrolle. „Ihr habt mehr als genug gesagt, Madam. Ihr denkt, dass Ihr mich kennt, aber Ihr wisst überhaupt nichts.“ Er richtete sich gerade auf. „Verabschiedet Euch bitte von dem Gedanken, dass ich Euch aus einem Gefühl der Ritterlichkeit oder aus Mitleid oder Großzügigkeit oder irgendeinem anderen hehren Gefühl gehen lasse.“ In seiner Stimme klang eine gehörige Portion Selbstironie mit. „Falls ich je so empfunden haben sollte, sind mir solche Gefühle inzwischen vollkommen fremd. Die einfache Wahrheit ist, dass ich keine Geisel brauche. Ich kann Grafton auch so einnehmen.“
Die Kälte, die in seiner Stimme gelegen hatte, raubte Anne den Atem. „Wie leicht Ihr darüber sprecht, mein Heim zu zerstören“, flüsterte sie. „Ihr werdet das Leben all meiner Leute vernichten, und ich kann Euch nicht daran hindern.“
Für einen Moment glaubte sie, eine Regung hinter Simons hartem Gesichtsausdruck zu erspähen. Vielleicht war es Mitgefühl oder Trauer oder Bedauern. Sie hatte ihm eine Hand bittend entgegengestreckt, während sie sprach, aber seine Stimme blieb erbarmungslos.
„Nein, Ihr könnt mich nicht aufhalten“, bestätigte er, „aber ich bewundere Euch für den Versuch.“ Sein Ton wurde noch härter und kalt wie eine Winternacht. „Und nun geht.“
Vorsichtig legte Anne das Schwert auf den Tisch und griff nach ihrem Mantel. Tränen schnürten ihr die Kehle zu. Auch wenn sie
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