Geliebte Gefangene
seinen grausamen Worten nicht glaubte, war ihr bewusst, dass sie ihn nie dazu bringen würde, die Wahrheit zuzugeben. Sie wusste, dass er Henry verzweifelt liebte. Sie hatte es in dem Moment in seinem Gesicht gesehen, als sie ihm erzählt hatte, dass sein Bruder noch lebte. Er hatte seine Freude und Erleichterung und Dankbarkeit nicht verbergen können. Aber es stand zu viel auf dem Spiel, als dass sie es wagen konnten, sich voreinander eine Blöße zu geben. Es war zu gefährlich, in diesem Konflikt auch nur den kleinsten Funken von Sympathie füreinander zu zeigen, denn einer von ihnen stand auf der Seite des Königs und der andere auf der Seite des Volkes.
Und doch spürte sie, dass Simon sie mit seinen nachtdunklen Augen ansah, und das Bewusstsein seines Blickes jagte ihr einen heißen Schauer über die Haut. Sie konnte diesen Blick in jeder Faser ihres Wesens spüren, ohne sich dagegen wehren zu können. Gegen alle Wahrscheinlichkeit und auch gegen jede Vernunft war immer noch etwas zwischen ihnen, etwas erschreckend Mächtiges. Aber es durfte nicht sein. Es war unmöglich. Sie waren Todfeinde, und ein Teil von ihr hasste ihn auch. Doch ein anderer Teil fühlte sich zu ihrem Erschrecken noch genauso sehr zu ihm hingezogen wie vor vier Jahren.
Sie legte sich den Mantel um die Schultern. Simon stand neben der Tür, und sie würde an ihm vorbeigehen müssen, wenn sie den Raum verlassen wollte. Sie wünschte sich nichts mehr, als endlich zu gehen, doch als sie an der Tür angekommen war, zögerte sie und sah zu ihm auf. Aber sie wusste nicht, was sie ihm sagen sollte.
Überraschend nahm er ihre Hände in die seinen. Sein Blick war von einer brennenden Intensität. „Ihr seid mit meinem Todfeind verlobt“, sagte er leise. „Ich werde Euer Heim stürmen und Euren Leuten ihre Lebensgrundlage nehmen. Wenn ich sage, dass es mir leidtut, werdet Ihr mich einen Lügner nennen. Aber glaubt mir, dass ich alles tun werde, um die Folgen des Schlags gegen Grafton abzumildern.“
Anne zitterte und bewegte sich unwillkürlich. Doch seine Hände schlossen sich nur noch fester um die ihren. „Ich verstehe.“ Ein leichtes, bitteres Lächeln lag auf ihren Lippen. „Wie Ihr schon sagtet, wir sind im Krieg. Und in einem Krieg kommen Menschen zu Schaden.“
„Seid morgen vorsichtig“, sagte Simon. Sein Blick glitt zu ihren verschlungenen Händen hinunter und wanderte dann zurück zu ihrem Gesicht. „Befolgt diesen Rat, selbst wenn Ihr mir nicht vertraut: Schließt Euch mit den Euch am nächsten stehenden Personen im sichersten Raum der Burg ein, wenn der Angriff beginnt. Ich werde Euch, so schnell ich kann, Nachricht schicken.“
Annes Blick hing an seinem Gesicht. „Glaubt Ihr wirklich, dass Ihr siegen werdet?“, flüsterte sie.
„Ja.“
Verzweifelt biss Anne sich auf die Lippen. „Ich habe Angst um Euch.“ Die Worte waren ihr herausgerutscht, bevor sie es noch verhindern konnte. Überrascht zog Simon die Luft ein. So nah, wie sie vor ihm stand, wie sie die Wärme seiner Berührung und die Spannung in seinem Körper spürte, konnte es keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen geben. Verlangen glitzerte in Simons dunklen Augen, und Anne wusste, dass er sie in seine Arme ziehen und bis zur Besinnungslosigkeit küssen wollte. Und sie wollte es auch. Der Wunsch, seinem Verlangen mit gleicher Leidenschaft zu begegnen, Feuer mit Feuer zu nähren, brannte fast schmerzhaft in ihrem Körper. Sie wusste nicht, warum oder wie es überhaupt möglich war, wo sie ihn doch für das, was er tun würde, hasste, aber der Drang war beinahe unwiderstehlich.
Simon atmete hörbar ein. „Wenn ich Gerard Malvoisier morgen als Erster aufspüre, bevor er mich findet“, sagte er rau, „wollt Ihr dann, dass ich sein Leben schone?“
Die folgende kurze Stille sprach von unterdrückten Gefühlen, dann wurde Anne von einer Welle des Hasses überrollt. Den ganzen Abend hatte sie ihre Verachtung für Gerard Malvoisier vor Simon verborgen. Ihre Loyalität für den König war das Einzige, was sie hatte schweigen lassen. Malvoisier war ihr Verbündeter, aber es war ihr unmöglich, sich länger vor Simon zu verstellen, und sie wollte es auch gar nicht. „Nein“, sagte sie, und ihre Gefühle brachten ihre Stimme zum Beben. „Ich will nicht, dass Ihr Gerard Malvoisier meinetwegen schont, Lord Greville. Er hat mir alles genommen, was mir wichtig war, und es zerstört oder unrettbar geschändet.“ Sie fühlte, dass sie vor Hass und Leidenschaft
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