Geliebte Gefangene
sie den Kopf. „Nein. Sagt jetzt nichts.“ Sie schmiegte sich tiefer in ihren Mantel, fühlte sich verzweifelt, kalt und einsam. „Ich habe einen Fehler gemacht“, erklärte sie. „Ich dachte, wir könnten die Zeit zurückdrehen, aber das können wir nicht.“
Sie sahen einander an, und Anne erkannte in seinen Augen, dass ihm genau wie ihr selbst schmerzhaft bewusst war, dass sie sich so nie wieder treffen würden. Falls Gerard Malvoisier morgen siegen würde, würden sie sich vielleicht sogar nie wieder sehen. Simon könnte in der Hitze und der Bitternis eines blutigen Gefechts fallen. Anne wusste, dass sie, falls die Burg eingenommen würde, selbst zusammen mit ihren Leuten sterben könnte. Diese plötzliche und unerwartete Süße zwischen ihnen, diese gefährliche Versuchung, war ein Moment außerhalb der Zeit gewesen. Sie sagte sich, dass es ohnehin nur ein Produkt der Erinnerung war und das Resultat der großen Emotionen und hitzigen Gefühle am Vorabend der Schlacht.
„Passt morgen auf Euch auf“, sagte sie leise.
Anne öffnete die Tür, und für einen Moment wirbelte Schnee herein. Dann trat sie hinaus. Die Nacht war kalt, und sie wollte umdrehen, zurück in die Wärme des Raums und die trügerische Sicherheit von Simons Armen. Aber sie wusste, dass, wenn sie sich wieder trafen – falls sie sich je wieder trafen –, sie Anne of Grafton sein würde, und er, Simon Greville, wäre der Sieger. Alles würde anders sein. Es würde keine Möglichkeit der Freundschaft mehr zwischen ihnen geben. Einmal mehr würde er ihr Feind sein.
3. KAPITEL
„Madam!“ Edwina fing Anne am oberen Ende der Turmtreppe ab, als sie gerade die Tür zu ihrem Zimmer öffnen wollte. Im Licht der Fackeln sah das Gesicht der Dienerin angespannt aus. „General Malvoisier ist hier“, sagte sie bedeutungsvoll. „Er hat nach Euch gefragt.“
Anne hielt einen Augenblick inne. Sie fühlte, wie die wohlbekannte Welle der Abneigung sie durchlief. Natürlich musste Malvoisier genau in dem Moment nach ihr verlangen, wo es ihr gelungen war, seiner ständigen Aufmerksamkeit zu entkommen. Ahnte er, dass sie sich aus dem Haus gestohlen hatte, um seinen Feind aufzusuchen? Der Gedanke jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie versuchte, sich zu beruhigen, schloss kurz die Augen, legte ihre Hand gegen das kalte Holz und drückte die Tür zu ihrer Kammer auf. „Danke, Edwina.“
Ihr blieben nur wenige Augenblicke, sich vorzubereiten. Gerard Malvoisier stand mit dem Rücken zum Feuer, die Beine gespreizt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Groß und massig beherrschte er einen Raum mit seinem Körperumfang und der Aura eines Mannes, der glaubte, besser als die Normalsterblichen zu sein. Seine blutunterlaufenen Augen waren kaum mehr als Schlitze in einem durch geplatzte Äderchen geröteten Gesicht. Jahre des maßlosen Lebens hatten ihm viel von seiner Jugend und Kraft geraubt, und Anne konnte selbst von der anderen Seite des Raums aus den Alkohol in seinem Atem riechen. Sie spürte, wie sein Blick musternd über ihr Gesicht glitt, und zog ihren Mantel enger um sich. Ihre Lippen waren geschwollen von Simon Grevilles Küssen, und sie glaubte, noch immer seine Berührung auf ihrer Haut zu spüren. Würde Malvoisier all das in ihrem Gesicht erkennen können? Glücklicherweise hatte sie sich die Zeit genommen, sich vor der Tür das Haar und das Kleid zu richten. Für einen Augenblick erlaubte sie sich, sich an Simons Hände auf ihrem Körper und seine Lippen auf den ihren zu erinnern. Sie unterdrückte das Zittern und wischte schnell diese unpassenden Gedanken fort. Sie würde noch Zeit genug haben, darüber nachzudenken, wenn sie wieder allein war. Entschieden straffte sie die Schultern, schlüpfte aus ihrem Mantel und wandte sich Gerard Malvoisier zu, um ihn mit allem Anschein von Freundlichkeit zu begrüßen. „Ich wünsche Euch einen guten Abend, Sir. Wie kann ich Euch helfen?“
Annes Umgang mit Sir Gerard Malvoisier war stets sehr formell. Das war eines der vielen Mittel, mit denen sie ihn auf Abstand hielt und ihre zerbrechliche Verteidigungslinie gegen seine bedrohliche Anwesenheit stärkte. Sie sah, wie er bei ihrem Tonfall missbilligend die Augenbrauen zusammenzog.
„Zuerst einmal könnt Ihr mir sagen, wo Ihr gewesen seid, Madam.“ Seine Stimme klang barsch. „Eure Kammerfrau schien nicht zu wissen, wo Ihr hingegangen seid.“
Anne sah über seine Schulter, wie Edwina hinter seinem Rücken entschuldigend die Hände
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