Geliebte Gefangene
hob. Die anderen Personen im Zimmer, Annes Cousine Muna, ein schlankes Mädchen von achtzehn Jahren, und ihr treuer Diener John Causton, blieben stumm. Muna hatte den Kopf gesenkt und den Blick auf den Boden gerichtet. Anne wusste, dass ihre Cousine genau wie sie selbst Malvoisier abgrundtief hasste, aber klug genug war, dies hinter einer Fassade von stummem Gehorsam zu verbergen. John hingegen konnte man seine Abneigung an seiner Miene und der Haltung seines Körpers ablesen. Malvoisier ließ häufig seinen Zorn an ihm aus und provozierte ihn so lange, dass Anne sich fragte, wie es John gelang, sich zurückzuhalten. Aber irgendwie schaffte er es stets, ruhig zu bleiben. Wenn Malvoisier im Zimmer war, spielten sie alle ihre Rollen.
„Ich bin in der Kirche gewesen“, log sie ohne jegliche Gewissensbisse, „und habe um einen gerechten Ausgang bei der morgigen Schlacht gebetet.“ Sie war sich nicht sicher, ob Malvoisier ihr glauben würde. Auf ihrem Mantel lag viel zu viel Schnee, der sich kaum mit dem kurzen Weg über den Hof in die Kirche erklären ließ.
Malvoisier machte einen Schritt auf sie zu. Es war nur allzu deutlich, dass er betrunken, kampflustig und auf Streit aus war. „Und was wäre ein gerechter Ausgang, Lady Anne?“
Anne weitete ihre Augen in einem unschuldigen Blick. „Das liegt in Gottes Hand, Sir. Ich vertraue ihm vollkommen.“
Malvoisier stieß ein abfälliges Geräusch aus. Er hielt wenig von göttlicher Intervention. „Wir werden morgen siegreich sein. Schließlich haben wir Sir Henry Greville und werden sei nem Hund von Bruder schon zeigen, was er tun muss, um sein Fleisch und Blut wiederzubekommen.“
Anne fühlte, dass Muna protestieren wollte, sich jedoch zurückhielt. Ihre Cousine hatte Henry Greville selbst gepflegt und war nur allzu leicht seinem jungenhaften Charme verfallen. Es hatte Anne amüsiert, mitzuerleben, wie schnell sich Munas Meinung über Henry geändert hatte. In einem Moment hatte sie über den lästigen Jungen gesprochen, der ihr als Kind die Zöpfe lang gezogen hatte, im nächsten hatte sie einen träumerischen Ausdruck in den Augen und schien wie auf Wolken zu schweben. Es wäre entzückend mitanzusehen gewesen, wäre da nicht die unabstreitbare Tatsache, dass Henry genau wie sein älterer Bruder ein Soldat auf Seiten der Parlamentarier war.
Anne hatte Henry ebenfalls ins Herz geschlossen, auch wenn sie wusste, dass er ihr Feind war. Etwas in der Verletzlichkeit dieses verwundeten Mannes machte es schwierig, sich daran zu erinnern, dass sie auf verschiedenen Seiten standen. So konnte sie es der unerfahrenen Muna kaum zum Vorwurf machen, sich im Überschwang der ersten Liebe, der ihr selbst nur allzu bekannt war, in einen Greville zu verlieben.
Schnell warf Anne ihrer Cousine einen tröstenden Blick zu. Edwina war an ihre Seite getreten und schaute sie mit beruhigendem Blick an. Muna sah verzweifelt aus. Sie wusste, dass sie Henry am Morgen auf die Zinnen führen würden und er dann in wenigen Stunden entweder tot oder frei wäre. Wie auch immer es ausging, sie würde ihn nie wiedersehen.
„Sir Henry ist noch zu schwach, um sein Lager verlassen zu können“, warf Anne ein, faltete ihren Mantel zusammen und legte ihn auf eine eisenbeschlagene Truhe. „Er braucht noch viel Ruhe.“
Malvoisier schnaubte verächtlich. „Ruhe! Morgen wird er garantiert keine Ruhe bekommen. Er wird als Schutzschild gegen unsere Feinde dienen, und wenn ich persönlich seinen bewusstlosen Körper auf die Festungsmauer zerren muss. Spart Euch Eure Sorge für Euren Vater, Mädchen. Wie geht es dem alten Mann?“
Die anmaßende Respektlosigkeit in seiner Stimme jagte Anne einen Schauer des Entsetzens über den Rücken, aber sie antwortete ihm mit aller Höflichkeit. „Lord Graftons Zustand ist unverändert, Sir. Ich bete stündlich für seine Genesung.“
Es verschaffte ihr einen kleinen Augenblick des Triumphs, als sie das ängstliche Funkeln in Malvoisiers Augen sah. Sie wusste, dass er sich des abergläubischen Gefühls nicht erwehren konnte, der Earl of Grafton könne seine Gesundheit und Stärke wiedererlangen und von ihm Rechenschaft über seine Verwaltung des Gutes einfordern. Doch sie wusste auch, dass dies niemals geschehen würde. Ihr Vater lag im Sterben, und die beharrliche Verzweiflung, mit der sie für sein Leben hoffte, würde nichts daran ändern. Aber jeden Tag nutzte sie Malvoisiers Ängste gegen ihn, indem sie ihn mit Anspielungen an die Anwesenheit ihres
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