Geliebte Gefangene
Malvoisier siegte, wäre die Belagerung beendet, aber das Dorf und sein Umland hätten wieder unter seiner grausamen Herrschaft zu leiden. Sollte Simon Greville Grafton jedoch für die Parlamentarier einnehmen … Anne überlief ein Schauer. Sie konnte sich nicht erlauben, darüber nachzudenken. Falls Simon siegreich wäre, war sie alles, was noch zwischen ihm und dem Schatz des Königs stand.
„Ich muss nachsehen, wie es meinem Vater geht.“ Sie verließ das Zimmer, durchquerte den großen nach Süden ausgerichteten Salon und folgte einem kleinen Gang zum Schlafzimmer des Earls. Als ihr Vater krank wurde, hatte Anne ihre eigenen Räume im Haupthaus des Guts verlassen und war in die Zimmer in der Nähe ihres Vaters gezogen, um sich besser um ihn kümmern zu können. Der Tempest Tower war der älteste Teil des Gebäudes und beherbergte alles, was sie und ihre Bediensteten brauchten. Außerdem hatte er den unschätzbaren Vorteil, dass er sich so weit wie nur irgend möglich von den Räumen entfernt befand, in denen Malvoisier seine Männer und das, was er als seinen Hof bezeichnete, untergebracht hatte. Natürlich hatte er gegen Annes Arrangement, was ihren eigenen unabhängigen Haushalt betraf, protestiert, aber sie war standhaft geblieben.
Eine einzelne Kerze auf einer Truhe am Bett erhellte das Zimmer ihres Vaters. In ihrem schwachen Licht wirkte der Raum kalt und voller Schatten, als würde die Gestalt auf dem Bett immer weiter in Dunkelheit versinken. Tatsächlich schien es Anne, als sei ihr Vater schon wieder ein wenig schwächer geworden. Sein Atem war noch flacher, und als sie seine Hand berührte, fühlte sich seine Haut kalt und trocken unter ihren Fingern an. Sie setzte sich auf den mit kunstvoll besticktem Stoff bezogenen Stuhl, der an seinem Bett stand, und nahm seine Hand. Er rührte sich nicht. Sein Gesicht war ruhig und entspannt, als habe er endlich Frieden gefunden. Er war schon sehr weit weg von ihr.
Und doch, als sie schon glaubte, dass er sich nie wieder rühren würde, bewegte er sich. Seine Lider flatterten. Anne lehnte sich vor, bemüht, seine Worte zu verstehen. „Papa?“
„Der Schatz des Königs …“ Die Worte des Earls waren nicht mehr als ein Flüstern. „In Sicherheit?“
„Ja, Papa.“ Tränen schnürten Anne die Kehle zu. „Macht Euch keine Sorgen. Alles ist gut.“
„Und du?“
„Mir geht es auch gut.“ Sie bemerkte, dass sie seine Hand viel zu fest hielt, und bemühte sich, ihren Griff zu lockern. „Wir wünschen uns alle, dass Ihr Euch wieder erholt, Papa. Spart Euch Eure Kraft dafür auf.“
Die Lippen des Earls verzogen sich zu einem gequälten Lächeln. „Unsinn. Mach mir keine falsche Hoffnung, Kind.“
„Nein, Papa.“
„Ich sterbe.“
„Ja, Papa.“ Anne lächelte ihn unter Tränen an. „Ich wünschte, es wäre anders.“
Der Earl schüttelte schwach den Kopf. „Malvoisier …“ Er versuchte, sich die trockenen Lippen zu befeuchten. Anne hob einen Becher Wasser an seinen Mund und verschüttete in ihrer Eile, ihm zu helfen, ein wenig.
„Du darfst ihm niemals vertrauen“, sagte der Earl.
„Nein, Papa.“
„Du brauchst einen starken Mann.“
„Es ist gut so, wie es ist.“
„Unsinn“, wiederholte der Earl. Er drückte ihre Hand, aber dann wurden seine Finger schlaff, als hätte ihn diese kleine Anstrengung seine letzte Kraft gekostet. „Nimm Greville, wenn er um dich anhält. Ihr habt beide meinen Segen.“
Anne runzelte die Stirn. Trotz seines Fiebers und seines sich stetig verschlechternden Gesundheitszustands hatte ihr Vater immer gewusst, dass Simon Greville Grafton belagerte. Aber wie er auf die Idee gekommen war, dass Simon sie immer noch heiraten wollte, war ihr ein Rätsel. Zweifelsohne war es ein Trugbild seines durch Krankheit verwirrten Geistes. „Ihr täuscht Euch, Papa“, verbesserte sie ihn sanft. „Lord Greville kämpft auf der Seite des Gegners. Es ist schon lange her, dass er um meine Hand angehalten hat.“
„Er wird es wieder tun.“ Ein zufriedenes Lächeln umspielte die Lippen des Earls. „Ich weiß es. Er ist ein guter Mann. Nimm ihn. Ich wünsche es so.“
Anne schwieg. Es war unnötig, Lord Grafton jetzt noch aufzuregen. Er wollte ihre Zukunft gesichert wissen, auch wenn das bedeutete, ihren Treueschwur zu brechen und einen Parlamentarier zu heiraten. Diese Verbindung war das Einzige, was ihm Frieden bringen würde, und das wollte sie ihm nicht verwehren.
„Schlaft jetzt“, sagte sie sanft und sah zu,
Weitere Kostenlose Bücher