Geliebte Myriam, geliebte Lydia
über die steile Uferböschung, und hinein in eines der Segelboote!
Jö, toll, mit einem solchen Segelboot fahren wir hinüber?
Genau so war's, und diese Fahrt mit einem Segelboot über den Nil war vielleicht nicht besonders bequem, aber dafür vollkommen geräuschlos und abgasfrei, unheimlich beruhigend und vielleicht noch schöner als Skifahren. Am anderen Ufer angelangt, erwartete uns ein geruhsamer und uns im höchsten Maße wohltuender Spaziergang zuerst zwischen den Feldern und später durch die Wüste; zuletzt ging's allerdings etwas mühsam den Berghang hinauf zu den Felsengräbern.
Ja, diese Löcher im Berghang - das waren also die Felsengräber. Und hier sahen wir also zum ersten Mal Beispiele dieses Grabtypus, den wir in Kürze in so unvergeßlicher Form erleben sollten. Von der steilen oder gar senkrechten Felswand aus betritt man mehr oder weniger lange Gänge und mehr oder weniger große Säle, mit oder ohne Säulen oder Pfeiler, alles in mühsamster Arbeit aus dem gewachsenen Felsen herausgemeißelt, mit Stuck beworfen und zuletzt mit überwältigend schönen Bildern bemalt.
Als wir dann wieder zu unserem Segelboot zurückwanderten, fühlten wir uns, glaub' ich, alle irgendwie innerlich emporgehoben, um nicht zu sagen: beglückt, und den ganzen Weg wurde kaum ein Wort gesprochen.
Und dazu kam jetzt allmählich eine großartige Abendstimmung auf, und während wir geräuschlos über den großen Fluß zurückglitten, ging die Sonne hinter den Palmen unter, und der Himmel verfärbte sich und wurde feuerrot, und auch die Berge mit den zahlreichen Löchern hinter uns begannen richtig zu glühen. Und dann fing zu allem Überfluß noch unser Bootsmann zu singen an, nicht für uns, glaub' ich, sondern für sich selber, und er sang sich ein schwermütiges orientalisches Liedchen vor; und wir durften zuhören und kamen uns vor wie im Paradies. Und mir fiel auf, daß unsere liebe Lydia total verzückt dreinschaute, und ich mußte zugeben, daß sie mit diesem verzückten Gesichtsausdruck eigentlich umwerfend hübsch aussah.“
Und unsere liebe Myriam? Nun, unsere liebe Myriam schaute einerseits höchst zufrieden drein, aber andererseits wirkte sie zugleich - ich konnte mir nicht helfen - irgendwie furchtbar melancholisch ... Müde?“
Giggerle unterbricht sich und beäugt seine Zuhörer mit einem prüfenden Blick und lächelt dazu. „Ihr habt schon lang nichts mehr gefragt oder so.“
„O ja ... eigentlich bin ich schrecklich müde!“ meldet sich zögernd die Henne zu Wort, und fast gleichzeitig poltert Johnny: „Deswegen brauchst du uns ja nicht auszulachen! Denk daran, wann wir gestern schlafen gegangen sind!“
„Heute!“ korrigiert die Henne.
„Ich lache euch nicht aus“, kontert Giggerle, „sondern an! Und daß wir alle unausgeschlafen sind ... naja, das merk' ich ja selber auch. Na, ich glaub', für heute reicht's, ja?“
„Ja, ja!“ brummt Johnny, und die Henne ruft: „O ja, deine lieben Geißlein sind sattgefressen! Von wem stammt das, hast du gesagt?“
„Von Vergil“, erwidert Giggerle.
„Ah - die Hirtengedichte des Vergil!“
„Jawohl, die Bucolica.“
„Und wie heißt's dort eigentlich ganz richtig? Du hast ja gesagt: in Abwandlung des Schlußverses des letzten Hirtengedichts, nicht?“
„Genau. Wie's dort ganz richtig heißt? Folgendermaßen: 'Geht nach Hause sattgefressen, es kommt der Abendstern, geht, liebe Geißlein!“
Und damit ist für heute Schluß.
Montag, 3. Juni 1996
1. Teil
Gruppenbild mit Damen
(FREI NACH HEINRICH BÖLL)
Heute morgen sind unsere drei Freunde wieder ordentlich ausgeschlafen, und da es heute wieder sehr schön ist und außerdem laut Wetterbericht aus dem Westen eine Gewitterfront im Anzug ist, haben sie nichts Eiligeres zu tun, als sich wiederum in ihrem ruhigen und abgeschiedenen Winkel zusammenzusetzen. Und kaum haben sie sich dort sozusagen wohnlich eingerichtet, da beginnt auch schon Johnny, als müßte er ein schlechtes Gewissen loswerden: „Wir waren gerade bei der Überquerung des Nils in einer tollen Abendstimmung ...“
„O ja“, nimmt Giggerle den Faden auf, „wir hatten ja Verspätung - doppelte Verspätung sogar. Und so hatte also diese doppelte Verspätung doch noch ihr Gutes, nicht wahr, denn wären wir pünktlich gewesen, wären wir zwar noch bei Tageslicht ins Hotel gekommen, aber diese Abendstimmung - die hätten wir wohl nicht erlebt. Übrigens haben wir auch im Hotel absolut nichts versäumt. Es war
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