Geliebte Myriam, geliebte Lydia
mittleren Alters, hatte sich inzwischen in einem Fauteuil niedergelassen und tat nichts anderes als uns gönnerhaft anlächeln. Das war zweifellos sehr lieb von ihm - aber waren wir nicht eigentlich zu einem anderen Zweck hergekommen? Ob das der Bruder meines Antiquitätenhändlers ist? Schwer zu sagen; Ähnlichkeit kann ich keine feststellen. Allerdings bin ich da überhaupt kein Maßstab, denn auf dem Gebiet bin ich völlig unbegabt. Der Sohn des Antiquitätenhändlers, das schwarzgelockte Bürschchen, ist übrigens nicht mit hereingekommen; sicher ist das Fernsehen viel spannender, als einem komischen Europäer beim Feilschen um irgendwelche uralten Wälzer zuzuschauen.
Plötzlich betritt, verlegen grinsend, eine ältere Frau in fußlangem, langärmeligem Kleid und mit einem Kopftuch über den Haaren geräuschlos den Raum und stellt ein großes Tablett mit einer Kanne, vier Gläsern und einer Zuckerdose auf das niedrige Tischchen vor uns, gießt aus der Kanne dampfenden schwarzen Tee in die Gläser und verschwindet sofort wieder, ohne auch nur ein Wort gesprochen zu haben. Eigentlich, so sage ich mir, dürfte die gar nicht so alt sein, wie sie aussieht; wahrscheinlich ist sie nicht einmal älter als ich, eher jünger. Möglicherweise ist sie die Ehefrau von dem mittelalterlichen Typ, der da grinsend neben uns im Fauteuil sitzt, sich gerade mit sichtlichem Genuß ein Glas zu Gemüte führt und dabei in überaus freundlichem Ton etwas zu uns sagt, was wie eine Aufforderung klingt, uns den Tee schmecken zu lassen, und Myriam bestätigt, daß meine Vermutung richtig ist. Also nehmen wir uns alle ein Glas und kosten, nur - von 'schmecken lassen' kann keine Rede sein; das Gesöff ist ja brennheiß!
Aber wer sagt denn, daß wir das Gesöff auf einen Schluck austrinken müssen? Und jetzt kommt wenigstens Leben in unseren Gastgeber. Seine erste Aktion ist zwar absolut überflüssig: er bietet zuerst mir und dann meinen Damen Zigaretten an. Natürlich lehnen wir dankend ab, aber das scheint ihn nicht sehr zu stören, denn ohne unseren Wink mit dem Zaunpfahl zu beachten, zieht er eine aus der Packung, steckt sie sich in den Mund, zündet sie an und qualmt uns anschließend ungeniert unsere ganze Atemluft voll. Naja, so sind sie eben, die Raucher. Hauptsache, ihnen schmeckt's. Und nun erhebt er sich endlich gemächlich, bewegt sich auf einen der dickbauchigen Krüge zu - aha, jetzt wird's offenbar spannend! -, wirft mir einen vielsagenden Blick zu, hockt sich vor dem Krug nieder, hebt mit der einen Hand vorsichtig dessen Deckel in die Höhe und zieht mit der anderen irgendwas heraus, irgendwas Braunes oder vielmehr Gelbes - ja, tatsächlich: es ein Papyrus! Er legt den Deckel wieder auf den Krug, steht wieder auf, kommt mit aufreizender Langsamkeit auf mich zu und legt schließlich den Papyrus äußerst behutsam vor mir auf den Tisch; gleichzeitig grinst er mich auffordernd an und bläst mir den Rauch seines Glimmstengels ins Gesicht.
Der Papyrus. Hier lag er jetzt also vor meiner Nase. Auf den ersten Blick erkannte ich, daß die Bezeichnung 'Papyruscodex' oder 'Papyrusbuch' maßlos übertrieben war. Es handelte sich bestenfalls um einen winzigen Teil eines Buches. Aber immerhin war das, was da vor mir lag, wunderbar, um nicht zu sagen: fast perfekt, erhalten, und die Beschriftung war griechisch, typische Buchschrift, und zwar die Schrift einer viel späteren Zeit als bei dem Brief, den ich am Vortag erstanden hatte; jede Epoche hat nämlich ihre typischen Buchstabenformen. Inzwischen weiß ich, daß es sich um die Schrift des 3. Jahrhunderts nach Christus handelt. Aber Buch? Es war das Fragment eines Buches, und zwar allem Anschein nach ein sogenannter Faszikel, das heißt, ein großer Bogen, der im sogenannten Quartformat gebrochen ist und dadurch vier Blätter oder acht Seiten bildet. Eine erste Prüfung ergab, daß diese acht Seiten einen zusammenhängenden Text boten, denn sie waren mit den griechischen Zahlzeichen durchgehend von 75 bis 82 numeriert. Naja, das war zwar relativ traurig, hatte aber den unbestreitbaren Vorteil, daß dieses Fragment für unsereins vielleicht doch nicht unerschwinglich war. Und was jetzt folgte, war die reinste Pantomime, das heißt, wir führten die Verkaufsverhandlungen, unser Gastgeber und ich, ohne daß dabei ein Wort gesprochen worden wäre, nur mit Händen und Füßen und mit Hilfe eines Zettels, auf den jeder seine Preisvorstellungen niederschrieb. Myriam vermied es
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