Geliebte Myriam, geliebte Lydia
Vorschlag vorbrachte, und zweitens, weil aus diesen kurzen Worten mit brutaler Deutlichkeit hervorging, daß sämtliche Vorsichtsmaßnahmen unsererseits für die Katz' gewesen waren: unser süßes Geheimnis war keins mehr, zumindest Clemens und Klein-Barbara hatten vollkommen überlauert, daß die alte Zimmereinteilung nicht mehr galt, daß, mit anderen Worten, Lydia mit mir das Zimmer teilte. Und was noch ärgerlicher war: ich konnte sie nicht einmal befragen, ob sie die einzigen seien, die das wissen, oder auch schon andere in das Geheimnis eingeweiht seien; schließlich war's ja denkbar, daß sie selber, wie eben die meisten Jugendlichen heute sind, gar nichts daran fanden. Aber genau durch meine Frage hätte ich sie höchstwahrscheinlich darauf aufmerksam gemacht, daß daran sehr wohl was auszusetzen war, oder sagen wir: daß manche daran sehr wohl was auszusetzen gehabt hätten.
Sobald ich mich daher von der Überraschung und dem Schrecken halbwegs erholt hatte, warf ich der Lydia einen halb amüsierten, halb fragenden heimlichen Blick zu, und als sie mir schmunzelnd unauffällig zunickte, griff ich in meine Jackentasche, holte aus ihr unseren Zimmerschlüssel hervor, den ich in der Eile, und weil wir ja nur kurz auszubleiben gedachten, gar nicht abgegeben hatte, und überreichte ihn ihm mit gönnerhafter Geste. Na, da hättet ihr die zwei sehen sollen, wie sie übers ganze Gesicht strahlten, und ich sah es ihnen an der Nasenspitze an, daß sie mir am liebsten um den Hals gefallen wären, alle zwei; und ich malte mir einen Augenblick lang im Geist aus, wie das wäre, wenn einem ein so ein junges Ding wie die Barbara um den Hals fallen würde, war aber gleich im nächsten Augenblick im Innersten moralisch empört über mich selber. Und dann bedankten sie sich überschwenglich, und der Clemens versprach, in unserem Zimmer nichts anzurühren, und ich war direkt versucht zu sagen: außer der Barbara natürlich! Und die Barbara versprach ihrerseits hoch und heilig, nicht zu spät zu ihren Eltern zurückzukehren und ihnen zu sagen, sie seien nur spazieren gewesen, und der Clemens wiederum versprach, nachher ordentlich zuzusperren und den Schlüssel bei der Rezeption abzugeben. Und nachdem ich sie für das alles sehr gelobt hatte, verabschiedeten sie sich zwar äußerst höflich, aber mit auffallender Eile, und im nächsten Moment waren sie auch schon abgezischt.
Ich blickte ihnen noch ein Weilchen schmunzelnd und zugleich kopfschüttelnd nach; dann wandte ich mich dem Geschäftsinhaber zu und sagte: 'Okay, wir fahren.'
'Ah, und ihre Kinder kommen nicht mit?' erwiderte er. 'Wie schade!' Daraufhin warf er dem Polizisten einen undefinierbaren Blick zu, verschwand hinter dem Vorhang und kam kurze Zeit später mit einem schwarzgelockten Bürschchen zurück, das er uns als seinen Filius vorstellte; dieser werde uns zu meinem Papyrusbuch führen, und wir mögen ihm nur vertrauensvoll folgen. Und damit streckte er grinsend allen dreien die Hand hin und wünschte uns viel Erfolg, und so verabschiedeten wir uns relativ feierlich von ihm und etwas weniger feierlich von unserem Freund und Helfer, der uns zwar ebenfalls angrinste, zugleich aber mit einem irgendwie seltsamen, fast unheimlichen Blick anstarrte, so daß ich direkt eine Ganslhaut bekam, und folgten dem schwarzgelockten Bürschchen hinaus auf die Straße und auf dieser weiter in derselben Richtung, wie wir hergekommen waren.
Und wenige Minuten später umrundeten wir das Südende, oder genauer: Südwestende, des Luxor-Tempels und standen gleich darauf am Flußufer, das heißt, am oberen Ende einer Treppe, welche die steile Böschung hinunter zum Fluß führte. Hier blieben wir kurz stehen und schauten uns um, denn es war ein zauberhaftes, ja, absolut phantastisches Bild: hinter uns der von Scheinwerfern beleuchtete Tempel, vor uns im Hintergrund die im außergewöhnlich hellen Mondschein wie pechschwarze Gewitterwolken aufragenden Westberge mit den deutlich erkennbaren Palmenhainen davor und unter uns die riesige und jetzt unheimlich schwarze Wasserfläche des Flusses. Der Acheron! durchzuckte es mich. Über den wird uns jetzt gleich der Totenfährmann Charon in seinem Nachen in den Hades bringen. Und der Vergleich, dachte ich mir sodann, ist nicht einmal falsch, denn am anderen Ufer ist hier ja tatsächlich, im wortwörtlichen Sinn, das Reich der Toten. Aber so stolz ich auch auf meinen Vergleich war - ich hütete mich, ihn vor Lydia und Myriam laut auszusprechen;
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