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Geliebte Myriam, geliebte Lydia

Geliebte Myriam, geliebte Lydia

Titel: Geliebte Myriam, geliebte Lydia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Plepelits
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ohne Lydias Bemerkung weiter zu beachten, fort: 'Und glaubt ihr, später geht es den Mädchen besser? Ach, keine Spur. Der einzige Unterschied ist der, daß jetzt der Begriff der Ehre in den Vordergrund rückt.
    Und was ist die Ehre? Ein dünnes Häutchen. Sonst nichts. Und der Verlust dieses dünnen Häutchens bringt über die ganz Familie ewige Schande, und diese kann normalerweise nur mit Blut getilgt werden, das heißt, das Mädchen muß entweder vom eigenen Vater oder von sonst einem männlichen Verwandten getötet werden, damit der Rest der Familie wieder in Ehre und Frieden mit ihrer Umwelt leben kann.'
    'Entsetzlich!' murmelte Lydia. 'Kann die Polizei solche Verbrechen nicht verhindern?'
    'Die Polizei?' erwiderte Myriam. 'Nein, die Polizei kann solche Verbrechen in der Regel nicht verhindern, und ich glaube, sie will sie auch gar nicht verhindern. Die Polizei und auch die Justiz besteht ja zur Gänze aus Männern, und fast alle Männer halten, soviel ich weiß, an den traditionellen Werten fest. Da kenne ich ein bezeichnendes Beispiel. Ich kenne es deshalb relativ gut, weil mein Vater über den Fall berichtet hat und uns daher über ihn besonders viel erzählen konnte. Zugleich zeigt dieses Beispiel, daß auch hochgebildete und weitgereiste Männer, die im Ausland studiert und akademische Grade erworben haben, ihre verklemmte und rückständige Einstellung gegenüber den Frauen nicht ablegen.
    Ein Ingenieur, der fünf Jahre lang in Deutschland studiert hatte, glaubte bei seiner Rückkehr nach Ägypten, bei seiner inzwischen siebzehnjährigen, unverheirateten Schwester Anzeichen einer Schwangerschaft zu entdecken. Er durchsuchte ihr Zimmer und fand im Kleiderschrank eine Arzneimittelflasche. Diese brachte er in eine nahegelegene Apotheke, um den Inhalt feststellen zu lassen. Als ihm der Apotheker mitteilte, es handle sich um ein Mittel, das gern bei Abtreibungsversuchen verwendet werde, geriet er vollkommen außer sich, stürzte zurück ins Haus, ergriff ein Küchenmesser und erstach seine Schwester an Ort und Stelle.
    Dies war einer der seltenen Fälle, die der Polizei und der Justiz überhaupt bekannt werden. Übrigens stellte sich bei der Obduktion heraus, daß das Mädchen noch jungfräulich gewesen war und auch keinerlei Anzeichen einer Schwangerschaft aufwies. Es kam tatsächlich zu einem Gerichtsprozeß, aber der Verteidiger beantragte Freispruch; sein Mandant habe das Verbrechen nur begangen, um die Familienehre zu schützen; Zweifel am Lebenswandel seiner Schwester hätten ihn dazu veranlaßt. Zwar seien diese Zweifel unbegründet gewesen, doch habe er in bester Absicht gehandelt. Wie ging der Prozeß aus? Der Angeklagte wurde freigesprochen. Und auch das ist typisch: fast immer steht das Gesetz auf der Seite der Männer. Ein Mann kann sich in aller Regel der Strafe entziehen, selbst wenn er einen Mord begangen hat, denn er ist durch den traditionellen, altehrwürdigen Ehrbegriff geschützt.
    Noch ein Beispiel gefällig? Auch diesen Fall kenne ich aus den Erzählungen meines Vaters. Er ist mir besonders nahegegangen, weil er gewisse Parallelen zu meinem eigenen Fall aufweist. Zwei Brüder lebten mitsamt ihren Familien zusammen im Haus ihrer Eltern. Der eine von den beiden fühlte sich zur Tochter seines Bruders hingezogen, verführte sie und hatte mit ihr ein jahrelanges Verhältnis. Schließlich wurde, genau wie in meinem Fall, durch irgendeinen Zufall die Sache ruchbar, und was machten da die beiden Brüder? Sie taten sich zusammen und vergifteten das Mädchen. Ja, und genauso hätte es auch mir ergehen können!'

    Myriam verstummte. Ihre längere Geschichte war offensichtlich zu Ende. Und Lydia und ich, wir schwiegen betroffen und hatten alle Mühe, sie einigermaßen zu verdauen. Schließlich sagte ich: 'Na, seien wir froh, daß es jetzt wenigstens eine Möglichkeit gibt, diesen angeblichen Mangel auf chirurgischem Weg beheben zu lassen, bevor einer auf die Idee kommt, die Ehre deiner Familie retten zu müssen! Und an den Kosten soll's wirklich nicht scheitern, gelt! Vorausgesetzt natürlich, daß wir irgendwann hier rauskommen.' Ich schüttelte nachdenklich den Kopf und murmelte mehr zu mir selber: 'Wer hätte das gedacht, daß ein dünnes Häutchen derart lebenswichtig sein kann! So gesehen ist die Bekehrungsaktion dieses Banditen ja doppelt verwerflich!' Und dann schoß es mir durch den Kopf: Na, und meine Trostspendeaktion? Die natürlich ebenso! Aber das sprach ich natürlich nicht laut aus.

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