Geliebte Myriam, geliebte Lydia
einiger Zeit löste ich sie ab, und so lösten wir uns immer gegenseitig ab und schufteten wie die Kulis. Und die Stunden vergingen, und unsere Hände und vor allem unsere Rücken schmerzten immer mehr, und unsere Gesichter wurden immer länger, denn es ging nichts weiter; das heißt, etwas ging natürlich schon weiter, aber viel zu langsam, und dazu wurde der Sandberg wie jeder Berg nach unten zu immer breiter, und folglich ging der Abbau immer langsamer vonstatten. Und war wenigstens irgendein Erfolg zu erkennen? Nein, überhaupt keiner. Naja, in der Felswand war inzwischen ein dünner Spalt aufgetaucht, aber das war auch schon alles.
Das war der Stand der Dinge um zirka sechs Uhr abends, als ich in die Hände klatschte und 'Feierabend!' rief. Und was glaubt ihr, wie gern da meine zwei Süßen diesem verdammten Sandberg oder dem, was halt inzwischen davon übrig war, ihren schmerzenden Rücken zukehrten! Und mir ging's nicht viel besser.
Was ist? Machen wir ebenfalls Feierabend? Mir schmerzt der Rücken. Und mir schmerzt vor allem das Mundwerk.“
„Na, das glaub' ich!“ lacht die Henne. „Mir schmerzen die Ohren.“
„Und mir schlackern die Ohren - falls man so sagen kann!“ erklärt Johnny mit auffallend ernster Miene und mustert Giggerle, als sähe er ihn jetzt zum ersten Mal. „Da warst das also wirklich du? Ich meine: das Entführungsopfer? Ich hab' nämlich damals dein Bild im Fernsehen gesehen, aber natürlich nur mit halbem Ohr hingehört und außerdem den Namen nicht verstanden. Und selbst, wenn ich ihn verstanden hätte - ich wäre doch nie auf die Idee gekommen, daß du das sein könntest. Ich hab' dich ja auch nicht erkannt, wahrscheinlich wegen deinem Bart.“
„Ach, ich glaub', diese ganze Aufmachung ...“, ruft die Henne, „die entstellt ja einen Menschen total! Ich hab' nämlich ebenfalls dein Bild im belgischen Fernsehen gesehen und dich nicht erkannt.“
„Ja, ja“, bekräftigt Giggerle und schmunzelt etwas verlegen, „das war ich.“
„Na sowas!“ ruft Johnny kopfschüttelnd aus. „Wenn ich das geahnt hätte!“
„Ja? Was wäre dann gewesen?“
Aber nun ist Giggerles Freunden keine Äußerung mehr zu entlocken. Sie starren ihn nur wie ein Weltwunder oder wie ein Wesen von einem fremden Stern an und sind, wie es scheint, vollständig damit beschäftigt, diese für sie offenbar so bestürzenden Fakten zu verarbeiten und bleiben für den Rest des heutigen Tages überhaupt äußerst schweigsam.
Mittwoch, 5. Juni 1995
1. Teil
For the rain it raineth every day
(SHAKESPEARE)
„Also, daß du das Entführungsopfer gewesen bist! Ich kann's noch immer nicht fassen!“
Es ist Johnny, der mit diesem, von heftigem Kopfschütteln begleiteten Ausruf die Gespräche des neuen Tages einleitet. Unsere drei Freunde sind übrigens auch heute ins Haus verbannt; das Wetter erlaubt noch keinen längeren Aufenthalt im Freien.
„Ah - noch nicht verdaut?“ fragt Giggerle schmunzelnd. „Ich meine nicht Mamas Frühstück, sondern meine schönen Ferien in einer herrlich ruhig gelegenen Ferienwohnung im Thebanischen Gebirge?“
„Na, du hast Vorstellungen!“ rügt Johnny. „So schnell kann ich das nicht verdauen! Schließlich bist du für mich nicht irgendeiner!“ Und dabei blickt er sich, wie zur Bestätigung, nach der Henne um. Doch die Henne ist immer noch recht wortkarg und beachtet Johnny überhaupt nicht, sondern wendet sich Giggerle zu und sagt nur: „Erzählst du bitte weiter?“
Und Giggerle nimmt den Faden auf und beginnt: „Ja ... wir machten also endlich Feierabend. Wir kehrten, wie gesagt, dem Sandberg in der Hotelsuite den Rücken, trotteten, total erschöpft, in unsere Ferienwohnung zurück und machten dort erst einmal Katzenwäsche und mußten dabei feststellen, daß unsere Wasservorräte langsam, aber sicher dem Ende zugingen; und beim anschließenden Abendessen mußten wir feststellen, daß das gleiche für unsere Essens- und Mineralwasservorräte galt. Folglich mußten wir sogar hoffen, daß uns die Herren Terroristen in absehbarer Zeit wieder einmal ihre Aufwartung machen würden. In dieser Nacht - denn offenbar arbeiteten die nur nachts - also, in dieser Nacht kamen sie nicht, und das war an und für sich gut so; denn wir waren wirklich und wahrhaftig vollkommen geschafft, und uns taten nicht nur Hände und Rücken, sondern noch eine Menge anderer Körperteile weh. Nun wißt ihr ja, in so einem Zustand reagiert jeder Mensch anders; die einen schlafen dann
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