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Geliebte Myriam, geliebte Lydia

Geliebte Myriam, geliebte Lydia

Titel: Geliebte Myriam, geliebte Lydia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Plepelits
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kostbaren Materialien! Bei denen bin ich nun völlig überfordert. Na gut, Gold kenn' ich natürlich und Perlen und Korallen und meinetwegen noch Türkis und Bergkristall. Aber bei den vielen anderen Steinen bin ich total aufgeschmissen. Und außerdem war mir nicht immer klar, ob das nun überhaupt ein Stein oder nicht wieder irgendeine Art von Glasfluß ist. Was mir aber am allermeisten imponierte, das war nicht die Kostbarkeit der verwendeten Materialien, sondern eindeutig die Feinheit und Präzision der Arbeit und die unglaubliche Phantasie in der Gestaltung.
    Ich hab' gesagt, die Truhe sei voll gewesen mit Schmuck. Das stimmt nicht ganz. So kam's mir nur im allerersten Moment vor. Erstens war sie bei weitem nicht voll, und zweitens lag noch was anderes drin, was mich persönlich sogar noch weit stärker faszinierte als sämtliche Juwelen zusammengenommen: eine dünne Papyrusrolle nämlich. Und wer beschreibt mein Erstaunen, als ich genauer hinsah und erkannte, daß sie mit griechischer Schrift bedeckt ist? Nun war mir allerdings bestens bekannt, daß man Papyrusrollen normalerweise nur einseitig beschrieb, und zwar auf der Seite, die aus den horizontalen Streifen besteht, der sogenannten Recto-Seite, und dann so zusammenrollte, daß die Schrift innen war; nur die Adresse bei Briefen und ähnliches schrieb man naturgemäß auf die Außenseite, die sogenannte Verso-Seite, die aus den vertikalen Streifen besteht. Wenn hier also die Außenseite beschrieben war, und noch dazu auf griechisch - was hatte das zu bedeuten? Nun, ich hatte sofort einen bestimmten Verdacht und machte mich auch umgehend daran, diesen nachzuprüfen. Mit aller gebotenen Vorsicht nahm ich die Papyrusrolle aus der Truhe und beäugte sie erst einmal gründlich. Keine Schnur rundherum, kein Siegel, wie man das nämlich bei antiken Urkunden oft erlebt. Ließ sie sich aufrollen? Ja, mit etwas Vorsicht ganz leicht. Ich rollte sie also auf - und wie ich's vermutet hatte: die Innenseite war ägyptisch beschrieben - nicht in Hieroglyphen, sondern in der sogenannten hieratischen oder demotischen ägyptischen Schrift - in welcher genau, konnte ich natürlich nicht unterscheiden; ich weiß nur: die hieratische ist die ältere, die demotische die jüngere Schriftart. Myriam konnte die Frage übrigens auch nicht entscheiden, und natürlich konnte sie die Schrift auch nicht lesen oder übersetzen; sie war ja, wie wir inzwischen wissen, keine ausgebildete Ägyptologin. Inzwischen hat sich herausgestellt, daß es sich um die hieratische Schrift handelt und daß sie eine exakte Aufzählung und detaillierte Beschreibung sämtlicher in dieser Truhe aufbewahrten Schmuckstücke enthält. Das heißt, eine Nachprüfung durch die Fachleute hat ergeben, daß auf dem Papyrus um einiges mehr an Schmuckstücken aufgezählt ist, als tatsächlich in der Truhe enthalten war. Aber das hab' ich von allem Anfang an geahnt.
    Und die Außenseite - ja, die war nun also griechisch beschrieben ...“
    „Moment einmal!“ ruft Johnny dazwischen. „Das versteh' ich nicht ganz. Wieso hast du das von allem Anfang an geahnt?“
    „Daß von dem Schmuck in der Truhe einiges gefehlt hat? Naja, erstens, weil die Truhe, wie schon erwähnt, bei weitem nicht voll war. Aber ich gebe gerne zu, daß das ein rein subjektiver Eindruck war. Und zweitens ... Aber das wollte ich ohnehin gerade erzählen. Das stand nämlich auf dem Papyrus, das heißt: auf dessen griechisch beschriebener Außenseite. Diese griechische Schrift erkannte ich nun auf den ersten Blick: es war die etwas holprige, im übrigen aber leicht und deutlich lesbare Schrift unseres Herrn Eremiten Epiphanios, die mir schon von den diversen Wänden der Hotelsuite bestens bekannt war. Und da las ich nun mit ständig steigendem Staunen folgendes (ich übersetze):
    Bekenntnisse vor Gott durch dessen Sklaven Epiphanios.
    Groß ist deine unermeßliche Güte und Barmherzigkeit, o Herr! Wie habe ich es verdient, dein Glied zu werden, ich, der Sünder, der Unreine, der Hurer (falls ich richtig übersetze; im Original steht 'pórnos')? Zum Himmel hast du mir durch Tugend diese finstere Zelle hier gemacht, in der sitzend ich dich, den Schöpfer des Himmels und der Erde, sehen und erkennen kann. Hier sitze ich in materieller Finsternis, und du bist mir dreifaches Licht: Licht ist der Vater, Licht der Sohn, und Licht der Heilige Geist. Und so erleuchtest du mir in deiner unermeßlichen Gnade die Finsternis meiner Zelle mit deinem geistigen Licht,

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