Geliebte Myriam, geliebte Lydia
ich hier anwachse und Wurzeln schlage, kann ich ebenso gut diese Geröllhalde vor uns ein wenig untersuchen. Und ich machte mich vorsichtig von meinen immer noch untröstlichen Süßen frei und begann mir die Steine systematisch von der Nähe anzusehen und auf ihnen herumzukraxeln und sie auf ein eventuelles Schlupfloch oder sowas Ähnliches abzuklopfen. Und stellt euch vor: dabei entdeckte ich wirklich was. Nicht am Steingebirge selber, sondern an unserem Gang. Ich entdeckte nämlich, daß unser Gang genau an dieser Stelle zu Ende war, oder genauer: daß seine Decke zu Ende war, oder noch genauer: daß, wenn man ganz rechts auf das Steingebirge hinaufkletterte, die Gangdecke plötzlich zu Ende war und daß es da zwischen dem Ende der Gangdecke und dem Steingebirge ein schmales Loch gab und daß man, wenn man seinen Kopf durch dieses Loch hindurchsteckte, plötzlich theoretisch im Freien war - leider nur theoretisch; denn es war immer noch stockfinster. Andererseits war mir jetzt, indem ich meinen Kopf durch dieses schmale Loch hindurchsteckte, mit einem Schlag klargeworden, was hier los war: das Ende oder der Beginn des Gangs, je nachdem, war irgendwann in der Vergangenheit durch einen Riesenfelssturz verlegt worden, und wir saßen jetzt in der Patsche. Ich befand mich offensichtlich in einem zufällig offengebliebenen Zwischenraum zwischen dem aus gewachsenem Fels bestehenden Berghang und dem Felssturz; dieser Zwischenraum war, wie schon erwähnt, zunächst ganz schmal, wurde aber nach oben zu rasch breiter, da die Oberfläche des Felssturzes nach wie vor geböscht verlief und der Berghang über einem kurzen senkrechten Stück bald zurücksprang und darüber sogar relativ flach war. Und dadurch hatte sich also ein ungeheurer Hohlraum gebildet - und immer noch keine Aussicht auf Tageslicht? Nein, immer noch keine Aussicht auf Tageslicht! Besagter Hohlraum wurde nämlich, wie mir alsbald klarwurde, nach oben hin durch einen überhängenden Felsvorsprung abgeschlossen. Ich kletterte auf der Böschung des Felssturzes hinauf, soweit es ging - sie wurde nämlich bald zu steil zum Klettern -, und leuchtete alles ab: keine Chance! Erstens, wie gesagt, viel zu steil, und zweitens: nirgends auch nur das kleinste Loch zu sehen! Es war wie verhext! Zum Teufel mit dem verdammten Felssturz! Wegsprengen müßte man ihn, oder wegschießen!
Wegschießen? Mein Fluch, mein innerer Gefühlsausbruch hat, scheint's, direkt explosionsartig eine bestimmte Idee losgetreten, einen erregenden Gedanken in Bewegung gesetzt: wegschießen! Zum Schießen hab' ich doch was in meiner Tasche? Unsere lieben Freunde, die uns in der Nacht besucht haben, uns aus eigenem Antrieb gute Sachen mitgebracht haben und sich dafür etwas Dankbarkeit auf unserer Seite erwarten konnten, nicht wahr - die haben uns doch freundlicherweise sowas hinterlassen! Könnte man das nicht einmal ausprobieren? Vielleicht könnte man damit den Felssturz wegschießen? Hat man von dergleichen nicht schon einmal gehört?
Naja, ich war zwar in meinem Innersten vollkommen überzeugt, daß das eine reine Schnapsidee war, aber ich war jetzt durch nichts mehr von ihr abzubringen, und sei es nur, um mir ein Ventil für den brodelnden Überdruck in meinem Innern zu verschaffen. Wild entschlossen, stieg ich mit aller gebotenen Vorsicht durch das Schmale Loch wieder zu meinen zwei armen Süßen hinunter. Und wie ging's ihnen? Oje, schlecht! Wie zwei Häufchen Elend kauerten sie apathisch am Boden und umklammerten sich gegenseitig und blickten mir mit einer seltsamen Mischung aus Verzweiflung und Neugier entgegen. Ich warf ihnen zunächst nur einen grimmigen Blick zu und machte mich über meine Tasche her, und während ich in ihr wühlte und das Schießeisen - nun mein Schießeisen, ätsch! - herausfischte, murmelte ich: 'Diesen verfluchten Steinhaufen schieß' ich einfach weg! Geht bitte ein Stück zurück!'
Nun, die Reaktion meiner zwei armen Süßen auf diese Aufforderung war völlig unterschiedlich. Lydia verzog ihr Gesicht zu einem breiten Grinsen, lachte kurz auf und sagte: 'Oje, unser Christian ist übergeschnappt! Hast du da oben narrische Schwammerl gefunden?' Myriam verzog ihr Gesicht auch, aber nur, um aufs neue in bitteres Schluchzen auszubrechen. Jedenfalls nahmen mich beide nicht ernst. Daher sagte ich in vermutlich nicht sehr freundlichem Ton - sie würden es wahrscheinlich als 'anfahren' bezeichnen: 'Nach hinten sollt ihr gehen, hab' ich gesagt!' Und um meinen Worten
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