Geliebte Myriam, geliebte Lydia
jetzt freigelegt hatten, zurückzukrabbeln.
Da konnten Lydia und ich natürlich nicht zurückstehen und folgten ihr nach kurzem Zögern. Was Myriam gemeint hatte, war, den im alten Gang deponierten und über eine beträchtliche Strecke verteilten Sand so weit aufzuhäufen, daß kein Zwischenraum mehr frei blieb und der Gang bis zur Decke verlegt war. Übertrieben gründlich geschah aber diese Arbeit, muß ich gestehen, nicht mehr; zu sehr lechzten wir schon nach Freiheit, Sonne und frischer Luft. Sodann schnappten wir uns unsere Taschen und Freßsäcke und krabbelten sofort wieder zurück, indem wir diese entweder vor uns her schoben oder hinter uns her zogen. Und dabei stieg, bei mir jedenfalls, die Erregung ins Unermeßliche; ich war ja schon so gespannt, wie's jetzt weitergehen würde, und konnte es kaum glauben, daß wir bald, vielleicht schon in wenigen Minuten, draußen im Tageslicht stehen und frische Luft atmen sollten - hoffentlich! Denn in meinem Innersten meldete sich gleichzeitig ein gewisser Zweifel und die Besorgnis, daß das alles nur ein schöner Traum sein könnte. Und dann wurde mir plötzlich bewußt, daß es vorhin an der Stelle, wo wir wieder aufrecht hatten stehen können und wo wir uns gegenseitig um den Hals gefallen waren, noch genauso stockfinster gewesen war wie sonst überall in diesem unterirdischen Labyrinth. Hätte man dort nicht erwarten können, schon wenigstens einen leisen Schimmer des Tageslichts zu sehen, das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels? Oder geht meine Uhr falsch, und es ist noch stockdunkle Nacht? Oder ist eine totale Sonnenfinsternis ausgebrochen? Oder was sonst?
Diese Gedanken schossen mir also in Sekundenbruchteilen durch den Kopf, während ich hinter Myriam und Lydia durch unseren frisch ausgeschaufelten Gang krabbelte und vor Ungeduld über ihre Langsamkeit beinahe platzte und gleichzeitig vor Staub oder vor Aufregung zu ersticken glaubte. Aber dann war die Stelle, wo man wieder aufrecht stehen konnte, endlich erreicht, und ich sprang auf und hätte dabei vor Ungestüm fast die Lydia umgerissen und leuchtete mit meiner Taschenlampe nach vorne und machte gleichzeitig ein paar Schritte vorwärts und blieb dann abrupt stehen und stieß zugleich einen wilden Schrei aus - einen Schrei des Entsetzens, der Enttäuschung, der Empörung, der Angst. Hier war nämlich Endstation. Total, endgültig, unwiderruflich. Vor mir erhob sich eine undurchdringliche Mauer aus Steinen und Felsbrocken und verschloß den Gang vom Boden bis zur Decke und versperrte uns den Weg nach draußen. Inzwischen waren Myriam und Lydia nachgekommen und standen nun vermutlich mit ähnlichen Gefühlen vor diesem Scherbenhaufen unserer Hoffnungen und Sehnsüchte und waren offenbar dermaßen erschüttert, daß sie nicht einmal schrien oder heulten oder sowas, sondern überhaupt keinen Ton von sich gaben. Stumm und fassungslos und wie gelähmt starrten sie die längste Zeit auf diese unglaubliche und unbegreifliche Steinmauer vor uns, und dann wandten sie sich plötzlich wie auf Kommando ab und hängten sich mir an den Hals, nicht um zu lachen und zu jubeln, sondern um an meiner Brust oder an meiner Schulter leise zu schluchzen und mir mit ihren Tränen die staubbedeckte Weste naß zu machen. Und ich hatte überhaupt keinen Trost für sie, sondern stand selber wie gelähmt da und hoffte, daß das nur ein böser Traum oder eine Fata Morgana sei und sich dieses entsetzliche Steingebirge vor uns im nächsten Moment in Luft auflösen werde.
Es löste sich aber nicht auf, und wenn ich noch so intensiv hoffte, weder in Luft noch in sonst was. Massiv, undurchdringlich und unüberwindlich ragte es vor uns auf und ließ nicht einmal den dünnsten Sonnenstrahl durch. Mit der Zeit ließ meine Betäubung allmählich nach, und meine fünf Sinne begannen wieder halbwegs normal zu funktionieren, und während meine zwei armen Süßen noch hemmungslos an meiner Brust und an meiner Schulter schluchzten, betrachtete ich das Steingebirge vor mir bereits mit etwas klarerem Kopf. Ein Steingebirge war's nämlich und nicht eine Steinmauer, wie's mir im ersten Moment vorgekommen war. Die Steine und Felsbrocken lagen natürlich nicht senkrecht aufgeschichtet wie bei einer richtigen Mauer, sondern geböscht wie bei einer Geröllhalde als Folge eines Felssturzes; und an eine Geröllhalde erinnerten sie mich umso mehr, je länger ich sie betrachtete. Nun fing ich langsam wieder an, logisch zu denken, und ich sagte mir: Bevor
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