Geliebte Myriam, geliebte Lydia
mich um und schmiß es wütend in meine Tasche - nein, ich schmiß es natürlich nicht, dazu hatte ich viel zuviel Respekt vor ihm, sondern legte es mit aller gebotenen Vorsicht hinein. Dann richtete ich mich wieder auf, drehte mich um und begann wieder das Steingebirge vor mir anzustarren. Und während ich so, unentwegt niesend, dumpf vor mich hin starrte und mich irgendwie der alten Hoffnung hingab, daß es sich dadurch in Luft auflösen könnte, höre ich plötzlich hinter mir einen schrillen, zweistimmigen Schrei, der mich erschrocken zusammenfahren läßt. Er klingt aber gar nicht besonders entsetzt, eher im Gegenteil ... Ich drehe mich um und erkenne, daß Lydia und Myriam unmittelbar hinter mir stehen und aufgeregt nach oben deuten. Ich folge mit den Augen der Richtung, in die ihre Finger zeigen - und da entfährt mir selber ein Schrei - ein Schrei der Überraschung, ein Schrei des Entzückens. Genau dort, wo ich das Schmale Loch weiß, leuchtet durch die dichte Staubwolke ein schmaler, schwacher Lichtschimmer - Tageslicht, Sonnenlicht! Und da fällt meine ganze Enttäuschung, mein ganzer Ärger, meine ganze Wut auf einmal von mir ab, und ich vergesse zu niesen und beginne zu jubeln: 'Licht! Licht!' und falle nun meinerseits meinen zwei Süßen um den Hals, das heißt, mit dem einen Arm falle ich Lydia um den Hals, und mit dem anderen Arm falle ich der Myriam um den Hals. Und jetzt fallen diese, schreiend und heulend, mir um den Hals, und so halten wir uns kurze Zeit zu dritt gegenseitig umarmt und schreien und heulen und jubeln uns gegenseitig was vor, und unser Geschrei und unser Geheul und unser Jubel ist beinahe ebenso ohrenbetäubend wie das Gepolter vorhin - aber, wie gesagt, nur kurze Zeit. Dann mache ich mich, etwas gewaltsam, muß ich gestehen, los, springe auf das Steingebirge zu und beginne hektisch und mit zitternden Knien hinaufzuklettern, stecke den Kopf durch das Schmale Loch hindurch und schaue in den oberen Hohlraum hinauf - und da entfährt mir von neuem ein Schrei der Überraschung und des Entzückens. Über mir erkenne ich durch eine noch dichtere Staubwolke hindurch - den blauen Himmel! 'Der blaue Himmel!' schreie, ja, brülle ich und höre unter mir meine zwei Lieben kreischen, und sie wiederholen meinen Schrei und schreien ihrerseits 'Der blaue Himmel! Der blaue Himmel!' und dann noch weiteres, was ich nicht recht verstehen kann. Und ich klettere noch weiter hinauf und erkenne, daß der oberste Teil des Felssturzes abgebrochen ist und die Mulde, in der er in den Berghang übergeht, und besonders auch dessen flacherer Teil mit größeren und kleineren Felsbrocken übersät ist; und da erinnere ich mich wieder an den großen Stein, über den ich vorhin unten gestolpert bin und über den ich mich einen flüchtigen Augenblick lang so gewundert habe, und weiß jetzt wenigstens, wie der dorthin gekommen ist.
Sobald sich mein erster Begeisterungstaumel über den so lang entbehrten Anblick des blauen Himmels gelegt hatte, begann ich das Gelände - und ab sofort konnte man ja wieder berechtigterweise von 'Gelände' sprechen, nicht? - mit den Augen abzutasten und auf mögliche Fluchtwege hin zu untersuchen. Ich erkannte, daß der Felssturz sehr ungleichmäßig abgebrochen war: auf der einen Seite ragte er noch bis fast an den überhängenden Felsvorsprung hinauf, während er auf der anderen Seite bis weit herunten abgebrochen war. Wenn also überhaupt, dann auf dieser Seite! Man müßte einige Meter in diese Richtung klettern, dann über besagte Mulde auf den Berghang hinaufklettern oder aber von weiter oben auf das höher gelegene flachere Stück hinüberspringen, auf diesem bis zum Ende des riesigen Hohlraums, wo besagtes flachere Stück in diesem Felssturz endet, weitergehen und dann über die dort verhältnismäßig tief abgebrochene Steinmauer - denn das das war's dort - drübersteigen. Wie's dahinter aussah, darüber machte ich mir zum jetzigen Zeitpunkt noch keine übertriebenen Sorgen; irgendwie würden wir auch das schaffen.
Also gut! Jetzt oder nie! Ich kletterte sofort wieder durch das Schmale Loch hinunter und wurde von meinen zwei Hübschen - das heißt, gar so hübsch sahen sie momentan eigentlich nicht aus! - mit überschwenglicher Begeisterung in Empfang genommen. Und diese, nämlich die Begeisterung, steigerte sich ins Unermeßliche, wie ich ihnen jetzt erklärte, sie auf der Stelle hinaus, ins Freie, in die Freiheit, ans Tageslicht und an die frische Luft führen zu wollen; sie
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