Geliebte Myriam, geliebte Lydia
zwei Süßen erschlagen, als ich, schon mehrere Meter über ihnen und nur knapp unterhalb des 'Gipfels', also der sogenannten Mauerkrone, mich mit der Hand an einem vorkragenden Stein festzuhalten versuchte und der zu wackeln anfing und garantiert herausgebrochen wäre, hätte ich nicht sofort meine Hand weggezogen. Und als ich den Stein darüber probierte - und das war der oberste -, passierte genau dasselbe. Da hatte ich eine Idee: ich hob ihn an und drückte, so fest ich konnte, nach außen. Und was geschah? Er brach aus und polterte auf der anderen Seite in die Tiefe. Dadurch übermütig geworden, probierte ich das gleiche mit dem Nachbarstein - dasselbe Resultat, daraufhin mit dem Nachbarstein auf der anderen Seite - wieder dasselbe Resultat, dann mit dem Stein darunter, mit dessen Wackeln das alles angefangen hatte - wieder dasselbe Resultat. Und so schaffte ich's, den obersten Teil der Steinmauer buchstäblich zu zerlegen und damit auf zirka einen halben Meter Länge ihre Höhe um mindestens einen Meter zu reduzieren. Darunter war sie dann schon viel dicker und damit halbwegs stabil. Aber ein Polterkonzert gab das, sag' ich euch! Das machte richtig Spaß. Trotzdem hatte ich danach noch buchstäblich alle Hände voll zu tun, um meine zwei Süßen auf der Innenseite herauf- und auf der Außenseite hinunterzubugsieren. Die Außenseite war zwar glücklicherweise nicht mehr senkrecht, sondern stark geböscht, aber dafür ging's halt bergab, und das erschwerte die Sache natürlich enorm. Aber schließlich schafften wir auch das mit vereinten Kräften, und trotz unzureichendem Schuhwerk und trotz Zittern und Beben ging alles gut.
So, und wo, glaubt ihr, befanden wir uns jetzt? Wir konnten es kaum fassen: im Freien befanden wir uns jetzt, unter freiem Himmel, im Licht und in frischer Luft - und in Freiheit! Jawohl, in Freiheit! Die Szene, die jetzt folgte, kann ich kaum beschreiben; ihr würdet sie nur entsetzlich sentimental und kitschig finden. Kurz - es war wieder eine Szene Marke 'Liebe pur', aber bis ins Extrem gesteigert - mir kommt sie heute selber, wenn ich an sie zurückdenke, in ihrem Gefühlsüberschwang beinahe unwirklich vor, und wenn ich mir den Tränenstrom wieder in Erinnerung rufe, den ich damals auch selber vergossen habe, werde ich heute noch rot.
Jawohl, in Freiheit! Wir brauchten nur loszumarschieren und uns ins nächste Flugzeug oder in den nächsten Zug zu setzen und dann wieder auszusteigen und heimzugehen! Heimzugehen! Aber halt! Eins fehlte noch: unser Gepäck. Das lag noch geduldig und schicksalsergeben unten in unserem Verlies - in unserem ehemaligen unterirdischen Verlies. Das wartete noch darauf, daß ich es herauf- und herausholen würde. Erst dann konnten wir losmarschieren, heimfliegen und uns in den nächsten Zug setzen. Meine zwei Hübschen - naja, bei Tageslicht betrachtet waren sie momentan tatsächlich alles andere als hübsch - also, meine zwei Lieben und Süßen würden so lang Geduld haben müssen.
Nun, die hatten sie, und sie waren sogar heilfroh, eine Ruhepause einlegen zu können, und dazu war die Stelle sogar bestens geeignet. Der verhältnismäßig flache Abschnitt des Berghangs, den wir schon von drinnen kannten, setzte sich nämlich hier, außerhalb der Steinmauer fort. Hier, das heißt, in sicherer Entfernung von unserem morschen Felssturz und auch von der überhängenden Felsnase, konnte man sich also relativ bequem hinlegen, alle viere von sich strecken und das herrlich reine Blau des Himmelsgewölbes betrachten. Ja, und das taten sie auch, und zwar umgehend. Zudem lagen sie hier wunderbar im Schatten; die Sonne war nämlich irgendwo hinter dem Berg, auf dessen Abhang wir uns befanden, versteckt, und die Luft war daher herrlich kühl und frisch - ein unglaublicher Genuß für einen, der das lang genug entbehrt hat.
Ja, also, wie gesagt, ich holte als nächstes im Alleingang unser Gepäck herauf. Dreimal mußte ich zu diesem Zweck noch in unser ehemaliges Verlies hinunter- und wieder heraufsteigen, einmal für meine Reiseleitertasche und die Handtäschchen meiner zwei Süßen zusammen, einmal für den Sack mit den Fressalien und einmal für den Sack mit den Wasserflaschen. Abgesehen davon, daß letzterer ein ziemliches Gewicht hatte, bot dieser dreimalige Ab- und Anstieg keine besonderen Schwierigkeiten und keine besondere Dramatik mehr. Nur ein Problem stellte sich dabei: was sollte mit den drei braven altägyptischen Hauen geschehen, die uns den Weg in die
Weitere Kostenlose Bücher