Geliebte Myriam, geliebte Lydia
und einem herzzerreißenden Schluchzen unter. Also wandte ich mich noch einmal an Myriams Papa, dessen Toben inzwischen aufgehört hatte und der jetzt wie ein Häufchen Elend auf unserer Bank kauerte und das Gesicht mit beiden Händen bedeckt hielt.
'Herr Girgis?' redete ich ihn behutsam an. 'Hab' ich Sie richtig verstanden? Lydia hier meint oder hofft, ich könnte mich vielleicht verhört haben. Haben Sie wirklich gesagt, daß Myriam ... nicht daheim ist ... mitsamt ihrem Baby?'
Er reagierte zunächst gar nicht, aber nach einigen Augenblicken des bedrückenden Schweigens hob er seinen Kopf und ließ jetzt ein totenbleiches Gesicht sehen, schaute mich mit ... wie soll ich sagen ... leeren Augen an und murmelte dann mit gebrochener Stimme: 'Sie haben mich richtig verstanden. Myriam ist nicht hier. Sie ist angeblich davongelaufen - mitsamt ihrem Baby, höchstwahrscheinlich mit einem anderen Mann. Das glauben die jedenfalls. So sei sie ja, behaupten sie ...'
'Wie sei sie?' fragte ich kopfschüttelnd. 'Das versteh' ich nicht.'
'Ja, ich versteh's ja genauso wenig. Aber diese Furie da', und dabei deutete er mit dem Kopf in die Richtung der Tür, hinter der die Alte, die mir wie die Gorgo Medusa vorgekommen war - aber die Furien haben ja ebenfalls Schlangen auf dem Kopf - 'diese Furie da behauptet, meine Myriam sei' (ich übersetze sinngemäß) 'ein Miststück, ein liederliches Frauenzimmer, eine Schlampe, ja, eine Hure und habe nichts als Männer im Kopf, und ich hätte sie so erzogen, und nun hätten wir eben die Bescherung, und sie sei garantiert mit einem anderen Mann durchgebrannt. Und höchstwahrscheinlich hätte ich dabei meine Finger im Spiel gehabt - ich, der ich mich, nur um des lieben Friedens willen, die ganze Zeit über so sehr im Hintergrund gehalten habe und mich in Verzicht und Askese geübt habe!' Und nun bedeckte er sein Gesicht wieder mit den Händen und fing an, wie ein Schloßhund zu heulen, so daß ich selber vor Überraschung, Entsetzen, Verlegenheit und Mitleid ganz durcheinander war und selber hart mit den Tränen zu kämpfen hatte.
Als dann nach einiger Zeit eine Tür quietschte und Gamal seinen Kopf durch sie steckte, sich nach längerem Zögern anschlich, sich in sicherer Entfernung von uns aufpflanzte und uns mit seinem unbeschreiblichen Grinsen angrinste, da empfand ich das zunächst einmal nur als blöd, als störend, als lästig und warf ihm mehrere Male einen ärgerlichen Blick zu. Aber irgendwie vermochte es sein unschuldiges Geschaue mit der Zeit, mich innerlich ein wenig zu besänftigen; wie gesagt, auf mich wirkte sein Grinsen eigentlich mehr komisch als sonstwas. Und dann hatte ich plötzlich eine Idee. Ich wußte, daß Lydia in ihrer Handtasche eine Reihe von Fotos hatte, die für Myriam bestimmt waren; die meisten waren solche, die sie letztes Jahr während unserer ägyptischen Ferien geschossen hatte. Die suchte ich jetzt zu Lydias nicht geringer Verwunderung heraus, wählte eine Aufnahme aus, auf der Myriam besonders gut zu sehen ist, machte mich an Gamal heran und hielt ihm, wortlos und verlegen lächelnd, besagtes Foto von Myriam unter die Nase. Kinder und Narren, so sagte ich mir, reden doch die Wahrheit. Wer weiß, vielleicht erfahren wir von ihm die Wahrheit über Myriam oder zumindest ein Körnchen Wahrheit; denn was die angeblich Klugen in diesem wunderlichen Haus da verzapft hatten, allen voran diese Furie von Oma, davon glaubte ich selbstverständlich kein Wort.
Ja, so hielt ich also dem Narren - pardon: dem geistig Behinderten - ein Foto von Myriam unter die Nase. Und er? Naja, zuerst zeigte er keinerlei erkennbare Reaktion, sondern grinste mich weiterhin irgendwie geistesabwesend an, ohne dem Foto besondere Beachtung zu schenken. Erst als ich ungeduldig wurde und ihm mit dem Foto vor der Nase herumfuchtelte, wurde er auf dieses wirklich aufmerksam, entriß es mir mit einem blitzschnellen Griff und begann es intensiv anzuglotzen - jawohl, anzuglotzen; denn dabei traten ihm die Augen richtig hervor, und überhaupt ging in ihm mit einemmal eine auffallende Veränderung vor: er hörte auf, komisch oder unheimlich zu grinsen - je nachdem -, seine Züge erhellten sich, und er gab durch mehr oder weniger unartikulierte und für mich sowieso völlig unverständliche Laute deutlich genug zu erkennen, daß ihm die auf dem Foto Dargestellte nicht nur keine Unbekannte war, sondern daß er sie aufs höchste bewunderungswürdig, ja, verehrungswürdig fand. Und nachdem er sie
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